ÖFFENTLICHE KOMMUNIKATION, PROPAGANDA
Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat
, Ludwig-Maximilians-Universität München
1. Öffentlichkeit und umgekehrter Totalitarismus
Die drei Substantive im Titel sind erklärungsbedürftig – genau wie die These, die ihre Kombination in diesem Beitrag transportiert. In Kurzform: Wie jede Regierung möchte auch die deutsche lenken und kontrollieren, was öffentlich über sie und über die Wirklichkeit im Land gesagt wird (vgl. Meyen 2018). Das funktioniert im Internetzeitalter nur, wenn man mit den Digitalkonzernen kooperiert. Diese Liaison wurzelt in dem Wissen, dass der eigene Handlungsspielraum von öffentlicher Zustimmung und öffentlicher Legitimation abhängt. „Herrschaftsverhältnisse“ sind heute mehr denn je „Definitionsverhältnisse“ (Beck 2017: 129, 132). Macht hat der, dem es gelingt, seine Interpretation der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit zu platzieren (vgl. Havel 1989: 19). Dazu gehört, alles auszublenden oder zu marginalisieren, was die eigene Position gefährden könnte – in Deutschland im Moment etwa Debatten über soziale Ungleichheit, die weltweit einen historischen Rekordstand erreicht hat (vgl. Piketty 2020), die Masseneinwanderung seit 2015, die Corona- oder die Russlandpolitik.
Das Interesse der Regierungen in Bund und Ländern, ihre Arbeit in ein gutes Licht zu rücken, trifft hierzulande auf einen Journalismus, der über Landespressegesetze, Staatsverträge und Berufsstandsethik auf publizistische Vielfalt verpflichtet wird (vgl. Rager/Weber 1992). Das heißt: Der Journalismus soll möglichst alle zu Wort kommen lassen – alle Themen und alle Perspektiven. Horst Pöttker (2001) hat das Herstellen von Öffentlichkeit als „gesellschaftlichen Auftrag“ bezeichnet. Dieser „Auftrag“ wurzelt im Pluralismusmodell: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die zunächst gleichberechtigt sind (die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind). Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit: „Prinzipiell darf keine soziale Gruppe, ja nicht einmal ein Individuum, aber auch kein Gegenstand, kein Thema, kein Problem von ihr ausgeschlossen sein“ (Pöttker 1999: 219f.). Noch einmal anders gewendet: In komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaften ist Öffentlichkeit der „letzte gemeinsame Ort, an dem das verhandelt werden kann, was alle betrifft“. Hier werden zwar „keine Entscheidungen getroffen“, ohne öffentliche Vorbereitung und öffentliche Sichtbarkeit aber sind Akzeptanz und „kollektive Gültigkeit“ ausgeschlossen (Stegemann 2021: 16).
Zentral sind dabei Leitmedien wie die Tagesschau, die Süddeutsche Zeitung oder der Spiegel, die eine „zweite, nicht konsenspflichtige Realität“ produzieren – das „Gedächtnis“ der Gesellschaft, von dem man bei jeder Kommunikation auszugehen hat. Nur die Leitmedien streuen Information „so breit, dass man im nächsten Moment unterstellen muss, dass sie allen bekannt ist (oder dass es mit Ansehensverlust verbunden wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war)“ (Luhmann 1996: 43, 120f.). Leitmedien werden genutzt, weil wir wissen wollen, was die anderen zu wissen glauben (vor allem die, die über unser Leben entscheiden), und weil wir die Definitionsmachtverhältnisse kennen müssen, um zu überleben. Wer hat es geschafft, seine Themen, seine Perspektiven und vor allem seine Moral auf die große Bühne zu bringen, und wer hat auf dieser Bühne nichts zu suchen? Wem sollte ich mich folglich anschließen, wenn ich nicht isoliert werden möchte (vgl. Noelle-Neumann 1980), und wen meide ich besser?
Das Interesse von Regierungen, öffentliche Kommunikation zu steuern, ist untrennbar mit Propaganda und Zensur verbunden. Als Propaganda werden in diesem Beitrag mit Andreas Elter (2005: 19f.) alle Versuche staatlicher Stellen definiert, „eine bestimmte, eindeutig gefärbte Sichtweise der Dinge“ zu vermitteln „und damit die öffentliche Diskussion in die gewünschte Richtung“ zu manövrieren. Dazu gehört zwangsläufig, alle Positionen zu unterdrücken, zu delegitimieren oder in ihrer Reichweite einzuschränken, „die das herrschende Narrativ in Frage stellen und gleichzeitig das Potenzial einer weiten Verbreitung besitzen“ (Hofbauer 2022: 7) – Zensur. Noch einmal anders formuliert: Propaganda und Zensur sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wer seine „Sichtweise der Dinge“ (Andreas Elter) durchsetzen will, muss die Konkurrenz bekämpfen und möglichst ausschalten. Zensur ist ein „Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen, politischer Macht und kultureller Hegemonie“ (Hofbauer 2022: 237).
Dass sich die Medienforschung scheut, bei der Analyse westlicher Gegenwartsgesellschaften Propaganda und Zensur beim Namen zu nennen, ist das Ergebnis einer systematischen Begriffsentkernung. Von Zensur ist in wissenschaftlichen Texten genau wie in der politischen Bildung in aller Regel nur dann die Rede, wenn es um Regierungsformen geht, die als ‚totalitär‘, ‚diktatorisch‘ oder ‚undemokratisch‘ bezeichnet werden können – Hitlerdeutschland, die Sowjetunion, Russland, China, Nordkorea (vgl. exemplarisch Toyka-Seid/Schneider 2023). „Eine Zensur findet nicht statt“: Dieser Satz aus Artikel 5 des Grundgesetzes beschreibt durch diese Brille die Wirklichkeit, solange es keine Zensurbehörde oder gar ein entsprechendes Ministerium gibt. Die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach beispielsweise, bei der Documenta 2017 wissenschaftliche Begleiterin des Tempels verbotener Bücher, umschifft in ihrer Definition zwar die Begriffe Staat, Vorprüfung und Verbote, verwendet dafür aber Adjektive, die auf das Gleiche hinauslaufen und Deutschland von jedem Verdacht freisprechen: „Zensur ist nach meinem Verständnis eine umfassende, strukturell und institutionell verankerte Kontrolle, Beschränkung oder Verhinderung von zur Veröffentlichung bestimmter oder veröffentlichter Meinungsäußerung“ (Roßbach 2018: 19).
Der Zweck dieser Nebelkerze enthüllt sich wenig später: Roßbach möchte Zensur als „Kampfbegriff“ aus dem „Politzirkus“ abqualifizieren, zu hören vor allem von „populistischer Seite“ und von rechts (hier jeweils verwendet als Synonyme für alle, die nicht mitsprechen sollen), aber auch „von rechtspopulistischen Linken“. Daraus einen „klassischen Fall von Selbstviktimisierung“ zu machen oder gar eine „Querfront“ von Antidemokraten (ebd.: 82, 88), greift allerdings schon deshalb zu kurz, weil „die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen“ kontingent ist und folglich „nicht befragt werden darf“ (Stegemann 2021: 161). Die Zensur selbst wird für die Zensoren automatisch zu einem Tabu. Andernfalls geraten sie in Begründungsnot. Das erklärt zum Beispiel, warum ein Phänomen wie die „Cancel Culture“ ins Reich der Fabel verwiesen und die Debatte darüber als perfide Finte der ohnehin schon Mächtigen abgetan werden kann (vgl. Daub 2022, Thiele 2021).
Die andere Seite der Medaille ist ganz ähnlich bearbeitet worden. Propaganda ist im hegemonialen Sprachgebrauch inzwischen stets das, was die anderen machen – Nazis und Kommunisten vorzugsweise, aber auch sonst alle, die als ‚Gegner‘ und ‚Feinde‘ klassifiziert werden können (vgl. Arnold 2003). Der Propaganda-Begriff ist außerdem längst so negativ besetzt, dass er das Ergebnis vor die Analyse setzt – einseitig, nicht legitim und offenbar selbst dann effektiv, wenn man einräumt, dass sich die Menschen (wie etwa seinerzeit in der DDR) aus der Öffentlichkeit zurückziehen und allen Nachrichten in den jeweiligen Leitmedien misstrauen können (vgl. Fiedler/Meyen 2011: 17f.).
Die Kommunikationswissenschaft hat vergessen, dass sie als Propagandaforschung geboren wurde. Dabei macht sie nichts anderes als ihre Erfinder, die im Auftrag von Regierung, Militär und Geheimdiensten in den USA herausfinden sollten und wollten, wie man in die Köpfe der Menschen kommt. Psychologische Kriegsführung. Staat und milliardenschwere industrienahe Stiftungen (Rockefeller, Ford) haben ab 1939 hunderte Sozialwissenschaftler bezahlt, um auch den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Ein Ergebnis: Man sprach fortan von Kommunikation und nicht mehr von Propaganda (vgl. Simpson 1994, Pooley 2011). Das änderte zwar nicht das, wonach man suchte, erlaubte aber, die eigenen ‚guten‘ Absichten von den ‚schlechten‘ der Deutschen und später der Sowjets oder der Russen abzugrenzen (vgl. Meyen 2021: 63-75).
Die Begriffe Zensur und Propaganda sind auf diese Weise zu einem stumpfen Schwert gemacht worden. Medien- und Gesellschaftskritik können sie zumindest im deutschsprachigen Kontext nicht mehr verwenden, ohne sofort mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, maßlos zu übertreiben oder gar den ‚Rechten‘ in die Karten zu spielen. In diesem Beitrag wird dieses Risiko aus zwei Gründen in Kauf genommen. Zum einen kann jeder die Argumente prüfen und dann selbst entscheiden, ob es gerechtfertigt ist, im oben definierten Sinn von Propaganda und Zensur zu sprechen. Zum anderen hatten Klassiker wie Walter Lippmann, Edward Bernays oder auch Paul Lazarsfeld und Robert Merton (1948, vgl. Zollmann 2019) überhaupt kein Problem damit, Ross und Reiter zu nennen. Lippmann (2018: 84) wusste schon vor einhundert Jahren, dass Nachrichten alles sein mögen, aber auf keinen Fall ein „Spiegel gesellschaftlicher Zustände“. Dieser Walter Lippmann träumte von einer Regierung der Experten, die sich als Volksherrschaft tarnt und dafür die öffentliche Meinung gezielt beeinflussen muss – über die „Bilder, nach denen ganze Gruppen von Menschen“ handeln (ebd.: 75). Sein Jünger Edward Bernays hielt Propaganda ein paar Jahre später folgerichtig für „eine vollkommen legitime Aktivität“. Ohne „öffentliche Zustimmung“, schrieb Bernays 1928 schon im Geist der Medialisierungsforschung (vgl. Meyen et al. 2014), „kann kein größeres Vorhaben“ mehr gelingen. Diese Zustimmung, da war sich Bernays sicher, muss und kann organisiert werden – von „PR-Beratern“ wie ihm. Seine Definition entspricht dem, was ich in diesem Beitrag vertrete: „Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen“ (Bernays 2018: 28-32).
Lippmann und Bernays haben die „Vereinigung von Staat und Konzernen“ nicht mehr erlebt, für die Sheldon Wolin (2022: 221) in den Nullerjahren das Label „Supermacht“ nutzen konnte. Wolin hielt „Demokratie“ ähnlich wie Walter Lippmann für eine „weitgehend rhetorische Funktion innerhalb eines zunehmend korrupten politischen Systems“ (das er allerdings kritisierte und nicht verteidigte) und sprach stattdessen von einer „Koalition zwischen den Unternehmen und dem Staat“ – von einem „umgekehrten Totalitarismus“, der zwar wie einst in Nazideutschland oder in der Sowjetunion „die Autorität und die Ressourcen des Staates“ nutze, aber „seine Dynamik durch die Kombination mit anderen Formen der Macht“ gewinne (etwa mit den Kirchen) und die „herkömmliche Regierungsform“ mit „dem System des ‚privaten‘ Regierens“ verknüpfe, „das durch moderne Kapitalgesellschaften repräsentiert wird“. Etwas kürzer: Die „Macht der Konzerne“ ist jetzt auch politisch. In der Ära des Kalten Krieges seien Staat und Konzerne „zu den Hauptsponsoren und Koordinatoren der durch Wissenschaft und Technik repräsentierten Kräfte“ geworden und damit auch Quelle „zur Schaffung und Verbreitung einer Kultur, die die Konsumenten dahingehend erzieht, Veränderungen und private Vergnügungen zu begrüßen und gleichzeitig politische Passivität zu akzeptieren“ (Wolin 2022: 60-63).
Der „umgekehrte Totalitarismus“ ist bei Sheldon Wolin eine „neue Art von politischem System“, das „offenbar von abstrakten totalisierenden Mächten angetrieben wird, nicht von persönlicher Herrschaft“, und dessen „totale Macht“ schon deshalb schwerer zu erkennen ist als bei Hitler oder Stalin, weil dieses System keine Lager bauen muss und es auch nicht nötig hat, „Andersdenkende gewaltsam zu unterdrücken, solange sie wirkungslos bleiben“ (ebd.: 118, 134). Wolin sagt: Für die Kontrolle genüge es, „ein kollektives Gefühl der Abhängigkeit zu schaffen“ (ebd.: 192) sowie das zu nutzen, was heute an Methoden der „Einschüchterung und Massenmanipulation“ verfügbar ist (ebd.: 56). Umgekehrter Totalitarismus: Das ist „kollektive Angst“ plus „individuelle Ohnmacht“. Arbeitsplatz, Altersvorsorge, Gesundheitskosten. Dazu das Tempo im Job, der Stress im Alltag, die ständigen Aufreger um irgendwelche Politikskandale (ebd.: 352). Ergebnis: eine „Gesellschaft, die es gewohnt ist, neue Gewohnheiten gegen alte auszutauschen, sich an rasante Veränderungen, Unsicherheiten und soziale Verwerfungen anzupassen und ihr Schicksal von entfernten Mächten bestimmen zu lassen, auf die man keinen Einfluss hat“ (ebd.: 116).
Die Leitmedien blendet Sheldon Wolin weitgehend aus – genau wie den digitalen Kapitalismus, der für den Doyen der US-Politikwissenschaft, geboren 1922, beim Schreiben seines letzten großen Buches nach 9/11 bestenfalls Zukunftsmusik gewesen sein dürfte. Gut zwei Jahrzehnte später ist die „Drehtür zwischen den Machtzentren beider Küsten“ (zwischen Washington und dem Silicon Valley) beinahe sprichwörtlich geworden (Zuboff 2018: 150). Man verschiebt Personal von hier nach dort, spielt sich in Wahlkämpfen die Bälle zu und arbeitet, wie in diesem Beitrag zu zeigen sein wird, Hand in Hand, wenn es darum geht, in den politischen Kämpfen der Gegenwart die Definitionsmacht zu behalten und die „Nebenfolgenöffentlichkeiten“ zu steuern, die das thematisieren, was die Leitmedien ausblenden oder verdrehen. Ganz im Sinne von Sheldon Wolin hat Ulrich Beck (2017: 172f.) von einer „risikovergessenen Fortschrittskoalition“ gesprochen, „bestehend aus Experten, Industrie, Staat, Parteien und etablierten Massenmedien“, die Themen wie Klimawandel, Atomkraft und Finanzspekulation, Genmanipulation, Nanotechnologie und Reproduktionsmedizin, Terrorismus und digitale Überwachung je nach Bedarf in der öffentlichen Debatte ignorieren oder gegeneinander ausspielen kann. O-Ton Beck: „Das impliziert: Die Politik der Unsichtbarkeit ist eine erstklassige Strategie zur Stabilisierung staatlicher Autorität und zur Reproduktion der sozialen und politischen Ordnung, für die es darauf ankommt, die Existenz globaler Risiken“ zu leugnen (ebd.: 134).
Den traditionellen Massenmedien traute Beck nicht zu, den Auftrag Öffentlichkeit zu erfüllen, auch in den westlichen Staaten nicht. „Der Modus dieser national organisierten, öffentlichen Form medialer Macht ist exklusiv, das heißt: Man stellt sie gezielt her, man kann sie zulassen, unterdrücken usw.“ (ebd.: 172). Mit Blick auf eine Welt im Risiko, die sein Lebensthema war, forderte er folgerichtig eine Reform der Definitionsverhältnisse und hoffte dabei auf das Internet – auf eine Öffentlichkeit, die von den Mächtigen nicht ohne weiteres gesteuert werden könne, über andere Themen sowie in anderer Form diskutiere als die Leitmedien und sich dabei unter anderem auf eine „Gegenmacht unabhängiger Experten“ stütze (ebd.: 146).
Ulrich Beck war Optimist. Als er sein Buch über die „Metamorphose der Welt“ (das sein letztes werden sollte) Mitte der 2010er Jahre schrieb, waren die Beziehungen zwischen Regierungen und Google, Twitter und Co. allenfalls im Flirtstadium. Inzwischen ist die Hochzeit vollzogen. Wir leben in einem Digitalkonzernstaat, der die Öffentlichkeit mit seinen Botschaften flutet (Propaganda, Abschnitt 2), dabei die Logik der neuen Verbreitungswege nutzt (Zwischenspiel: Twitteröffentlichkeit, Abschnitt 3) und die Plattformbetreiber außerdem dazu bringt, Gegenpositionen und Oppositionelle zu löschen oder schwer auffindbar zu machen (Zensur, Abschnitt 4). Zu Becks Konzept der Definitionsmachtverhältnisse gehört, dass auch innerhalb einer Regierungskoalition oder, größer gedacht, in „jenem unterirdischen Netzwerk finanzieller, geheimdienstlicher und militärischer Interessen, das die nationale Politik“ lenkt, „ganz gleich, wer gerade im Weißen Haus“ sitzt (Talbot 2017: 505), um die Deutungshoheit gerungen wird. Solche Kämpfe, die auf Resonanz im journalistischen Feld angewiesen sind und deshalb auch dort ausgetragen werden, erklären beispielsweise, warum Bundeskanzler Scholz in den ersten Monaten des Ukraine-Kriegs eine deutlich schlechtere Presse hatte als seine Minister Baerbock und Habeck (vgl. Maurer et al. 2022).
2. Propaganda
Ohne solche Differenzierungen zu vertiefen, wird in diesem Abschnitt gezeigt, was staatliche Stellen unternehmen, um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Außerdem soll wenigstens angedeutet werden, dass diese Bemühungen nicht nur wegen der Allianz mit den Medienkonzernen auf wenig Widerstand stoßen. Zum einen haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Propagandaapparaten und dem Journalismus seit den 1990er Jahren erheblich verschoben, und zum anderen werden die Leitmedien inzwischen von dem gleichen Habitus dominiert, der auch in Behörden und Unternehmenszentralen regiert (vgl. Klöckner 2019).
Es gibt drei Möglichkeiten, „die öffentliche Diskussion in die gewünschte Richtung“ zu bringen. Eine Regierung kann erstens Personal bezahlen (sowie mit Ressourcen ausstatten und vielleicht schon ausbilden), das die Redaktionen mit dem füttert, wonach sie ohnehin suchen – mit exklusiven Informationen und Bildern, mit Gesprächspartnern und mit Material, aus dem sich Nachrichten machen lassen (zum Beispiel: mit wissenschaftlichen Studien oder mit Livezugängen bei Polizeieinsätzen). Dieses Personal sitzt auch am Abzug, wenn das nötig wird, was Edward Herman und Noam Chomsky (1988: 18) ganz deutsch „Flak“ genannt haben – Sperrfeuer, das alles unter Beschuss nimmt, was den Arbeitgebern in die Quere kommen könnte. Zweitens kann diese Regierung die eigene Arbeit so verändern, dass eine ‚gute Presse‘ wahrscheinlicher wird – über die Rekrutierung von medientauglichen Spitzenleuten, über die Events und Anlässe, von denen schon Edward Bernays gesprochen hat (ein eher harmloses Beispiel: das zentrale Fest zum Tag der deutschen Einheit, das jedes Jahr in einer anderen Landeshauptstadt ausgetragen wird und zuverlässig Berichterstattung produziert), sowie (weniger harmlos) über eine Priorisierung, die das öffentliche Image über alles andere und im Zweifel sogar über Recht und Gesetz stellt (vgl. Thorbjørnsrud et al. 2014). Drittens kann jede Regierung mit Geld nachhelfen – mit direkten Subventionen, die zum Beispiel in Österreich immer wieder für einen Skandal gut sind und in der Schweiz bei einem Referendum im Februar 2022 trotzdem fast eingeführt worden wären, oder mit indirekten Zuwendungen (Werbung, Steuererleichterungen, Mitfahrgelegenheiten).
Die Bundesregierung reizt alle genannten Möglichkeiten bis zum Anschlag aus. Sie bezahlt ein ganzes Heer an Propagandaleuten, schafft oder formt mit Hilfe dieser Menschen Ereignisse, die einzig und allein dem „Zweck“ dienen, „die Haltung der Öffentlichkeit“ zu beeinflussen (Bernays 2018: 28-32), und pumpt Geld in Verlage und Rundfunkanstalten. Punkt eins allein würde einen ganzen Aufsatz tragen – auch weil er sich schlecht von Punkt zwei trennen lässt. Wenn Ressourcen in Richtung Öffentlichkeitsarbeit umgeschichtet werden, wird die Performanz einer Organisation zwangsläufig medientauglicher – höchstwahrscheinlich zu Lasten der Aufgaben, für die Ministerien oder nachgeordnete Behörden ursprünglich geschaffen worden sind.
Paradebeispiel für diese Prioritätensetzung ist das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung mit seinen mehr als 500 Planstellen und drei einstigen Topjournalisten in den Sprecherpositionen (Steffen Hebestreit, Wolfgang Büchner, Christiane Hoffmann). Diese Behörde, angesiedelt im Kanzleramt und so ganz offensichtlich ein Machtinstrument des Regierungschefs, war zwar von Anfang an umstritten (vgl. Morcinek 2004), aber weder Konrad Adenauer noch seine Nachfolger haben sich hier von öffentlicher Kritik beirren lassen und so zumindest indirekt auch die Aufrüstung von Parallelressorts gefördert. Das Auswärtige Amt leistet sich inzwischen neben einem Pressereferat mit „33 Experten“ einen Beauftragten für strategische Kommunikation (Ende 2022: Peter Ptassek), dem „rund 40 Mitarbeiter“ helfen, die Ministerin und ihr Tun vor übler Nachrede zu beschützen und im Fall der Fälle mit eigenen Geschichten zu kontern (Meier/Monath 2022). Entsprechungen gibt es in jedem Ministerium, in jeder Parteizentrale, bei jeder Landesregierung und bei jedem Politiker, der sich in der Nähe des Machtzentrums bewegt. Der Wechsel aus den Redaktionen in die Behörden und Stäbe, für den neben den drei Genannten auch ihr Vorgänger Steffen Seibert steht, hat dabei Methode. Die Politik kauft sich auf diese Weise Know-how, Kontakte und Wohlwollen, das sich nicht nur aus der Reputation der alten Kollegen speist, sondern auch mit der Aussicht zu tun hat, eines Tages selbst auf die andere Seite gerufen zu werden.
Die Abteilungen oder Menschen, die im Namen oder in der Berufsbezeichnung Begriffe wie Öffentlichkeit, Presse, Medien oder Marketing tragen, sind dabei nur der offensichtliche Teil des Propagandaapparats. Claudia Roth, in der Ampelregierung Staatsministerin für Kultur und Medien, verfügt 2023 über einen Etat von 2,39 Milliarden Euro – vier Prozent mehr als 2022. Neben Museen, die sich im Bundesbesitz befinden, Filmproduktionen sowie einem Kulturpass für 18-Jährige werden aus diesem Topf vor allem Projekte und Programme auf Regierungslinie gefördert. Roths Behörde finanziert damit nicht nur Anlässe für die Berichterstattung, sondern auch Personal, das sich entsprechend äußern kann und will. Das gilt analog für die vielen Beauftragten, die haupt- oder ehrenamtlich auf ganz unterschiedlichen Verwaltungsebenen installiert worden sind (wahlweise zuständig für Ausländer, Integration, Diskriminierung, Rassismus, Frauen, Queer, Lesben, Schwule, Behinderung, Antisemitismus, Ziganismus, Klima, Nachhaltigkeit), ihre Existenz durch Leitmedienpräsenz rechtfertigen müssen und so auch in Unternehmen oder Kultur und Bildung Imitationen nach sich ziehen.
Dazu kommen Organisationen wie das Zentrum Liberale Moderne oder die Amadeu Antonio Stiftung (Spitze eines NGO-Eisbergs), die die Regierungsnarrative mit Flak unterstützen (hier ganz offen als „Gegneranalyse“ bzw. getarnt als Kampf gegen Hate Speech und Fake News, Rechtsextremismus und Antisemitismus). Das Zentrum Liberale Moderne, 2017 gegründet von den Grünen-Politiker Ralf Fücks und Marieluise Beck, hat von 2018 bis 2022 knapp 4,5 Mio. Euro für insgesamt 24 Projekte bekommen (vgl. Lübberding 2022). Das Bundesprogramm „Demokratie Leben!“, eine der Dachinitiativen für entsprechende Ausgaben (angesiedelt im Bundesfamilienministerium), kostet den Steuerzahler 2023 182 Millionen Euro, 16,5 Millionen Euro mehr als 2022 und 31,5 Millionen Euro mehr als 2021. „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ sind im Etat dieses Ministeriums für 2023 insgesamt 200 Millionen Euro gewidmet. Aus dem Etat des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung geht Geld an die Deutsche Atlantische Gesellschaft (2023: 700.000 Euro), die Gesellschaft für Sicherheitspolitik (600.000), das Zentrum Liberale Moderne, das Aspen Institute, die Europa-Union sowie das Progressive Zentrum (je 500.000).
Bei Sheldon Wolin (2022: 147) kann man nachlesen, wie es möglich ist, auch Wissenschaftler und Intellektuelle „nahtlos in das System“ zu integrieren und Widerworte zu verhindern, ohne Kritiker „schikanieren“ oder „diskreditieren“ zu müssen. Auflösung bei Wolin: durch „eine Kombination aus staatlichen Aufträgen, Unternehmens- und Stiftungsgeldern, gemeinsamen Projekten von Universitäts- und Unternehmensforschern sowie wohlhabenden Einzelspendern“. Peter J. Brenner (2022) hat diesen Punkt für Deutschland ausbuchstabiert und eine lange Liste mit „Instituten für Demokratie- und Rechtsextremismusforschung“ zusammengestellt, die der „Regierungsmacht“ auf Steuerzahlerkosten im Kampf um „Diskurshegemonie“ zur Seite stehen. Für die Universitäten hat diese Geldschwemme Folgen, die über die Umdeutung von Begriffen, Sprachregeln wie das Gendern und die Priorisierung von gesellschaftlichen Problemen hinausgehen. Auch ohne Einblicke in das Innenleben von Universitäten dürfte klar sein, dass sich Heerscharen von Wissenschaftlern auf die Fragen, Theorien und Methoden stürzen, denen die „Koalition“ aus Großunternehmen und Staat (Sheldon Wolin) via EU-Kommission oder BMBF ihre Töpfe widmet. Ein paar kommen zum Zug und viele andere machen auch ohne Förderung weiter, damit die Investition nicht ganz umsonst war. Wer Geld gewinnt, braucht Erfolgsnachweise – Publikationen in Fachzeitschriften und (entweder über diesen Umweg oder Interviews) Präsenz in den Leitmedien.
Die Umleitung von Steuergeldern in Medienunternehmen war in Westdeutschland (anders als in Österreich) nach 1945 tabu. In einem großen und dicht besiedelten Verbreitungsgebiet mit einer florierenden Wirtschaft und ohne die konkurrierenden Werbe- und Informationskanäle, die sich ab den 1990er Jahren im Internet entwickelten, spielten auch Behördenabonnements und Anzeigen aus Ministerien oder Ämtern eine eher untergeordnete Rolle. All diese Parameter haben sich spätestens in der Corona-Krise geändert. Etwas vorsichtiger: Die Einbrüche auf dem Werbemarkt und die Allgegenwart von Hilfs- und Rettungsfonds haben es der Medienbranche 2020 erlaubt, das Thema staatliche Unterstützung zu forcieren und dabei das Tabu Pressesubvention zu kippen. Unter dem Deckmantel „digitale Transformation“ wurden im Sommer 220 Millionen Euro in den Nachtragshaushalt des Bundes aufgenommen, die größtenteils noch 2021 ausgezahlt werden sollten, gekoppelt an die Auflage. Je größer die Zeitung, desto mehr Geld. Dieser Plan ist zwar Ende April 2021 „wegen verfassungsrechtlicher Bedenken“ gestorben, das wichtigste Gegenargument war aber nicht Staatsferne, sondern Wettbewerbsverzerrung. Die Online-Plattform Krautreporter hatte mit Gericht gedroht, wenn nur Printverlage gefördert werden, und sich auch nicht damit abfinden wollen, den Etat zu „Corona-Soforthilfen“ umzuwidmen. Die Verlegerverbände reagierten „geschockt“, sprachen von einer „mittleren Katastrophe“ (Meyen 2021: 166f.) und konzentrieren ihre Lobbyarbeit inzwischen auf das Thema lokale Vielfalt (Stichwort „flächendeckende Versorgung“, Röper 2022: 302).
Die Summe von 220 Millionen Euro hätte den Einbruch auf dem Anzeigenmarkt der Tagespresse weitgehend aufgefangen. Umsatz hier 2020: 1,712 Milliarden Euro – 367 Millionen weniger als 2019. In den Jahren davor lag der durchschnittliche Rückgang bei etwa 150 Millionen Euro (Statista 2023). Öffentliche Haushalte sind deshalb für die Werbeabteilungen der Medienkonzerne zunehmend attraktiv. Die Bundesregierung hat 2021 allein im Rahmen ihrer „Corona-Kommunikation“ Anzeigenraum für rund 64 Millionen Euro gekauft. Fernsehen und Radio bekamen im gleichen Zeitraum zusammen 28 Millionen Euro (Thoms 2022). Nicht mitgerechnet sind hier die Corona- und Impfkampagnen von Landesregierungen und lokalen Behörden, für die zum Teil auch die Wirtschaft in den jeweiligen Verbreitungsgebieten mobilisiert wurde, thematisch anders ausgerichtete Werbung und all das, was Konzerne und Stiftungen den Verlagen jenseits herkömmlicher Promotion zukommen lassen, um für bestimmte politische Ziele zu werben.
Im Journalismus stoßen solche Bemühungen aus zwei Gründen auf wenig Gegenwehr. Zum einen haben die wichtigsten Medienhäuser in Deutschland längst Konzerngröße und sind so selbst Teil der „Koalition zwischen den Unternehmen und dem Staat“, die bei Sheldon Wolin (2022: 221) den „umgekehrten Totalitarismus“ ausmacht. Die deutsche Presselandschaft ist von Monopolen und Konzentration geprägt sowie von einigen wenigen Verlagen (oft in Familienbesitz), die nicht nur alle anderen Kanäle bespielen und auch sonst über ihr Kerngeschäft hinauswachsen, sondern ihre redaktionellen Dienste zum Teil auch an die ‚Konkurrenz‘ verkaufen wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland von Madsack, das mehr als 60 Regionalblätter in sieben Bundesländern beliefert (vgl. Röper 2022, Ferschli et al. 2019). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist hier kein Gegenargument. Mit einem Beitragsaufkommen von knapp neun Milliarden Euro im Jahr gehören ARD und ZDF zu den größten Medienunternehmen der Welt (vgl. Hachmeister/Wäscher 2017) – Konzerne, die handeln müssen wie Konzerne und außerdem in nahezu jeder Hinsicht eng mit Politik und Staat verknüpft sind (vgl. Mirbach 2023: 128-178, 250-272).
Zum anderen ist der Journalismus in Deutschland ein sozial homogenes Feld, das vom „Habitus der Mittelschicht“ dominiert wird – „auf Anpassung ausgerichtet“, programmiert auf „die Akzeptanz der Herrschaftsverhältnisse“ (Klöckner 2019: 33) und durch Herkunft, Ausbildungswege und Lebenssituation eng mit den Entscheidern in Staat, Parteien und Wirtschaft verbandelt. Aus der Ähnlichkeit von sozialer Position und Habitus wird im Alltag nicht selten echte Nähe. Kontakt (Pressekonferenzen, Empfänge, Reisen) schafft Sympathie und damit oft auch mindestens Verständnis (vgl. Meyen 2021: 176-198). Uwe Krüger (2016: 105) hat für diese Wertegemeinschaft das Wort „Verantwortungsverschwörung“ geprägt: Journalisten wissen, was gut ist und was schlecht (so ziemlich das Gleiche, was die Herrschenden gut oder schlecht finden), und glauben, dass sie Einfluss auf die Menschen haben. Also wird die Wirklichkeit „um die Teile“ reduziert, „die nicht zur Haltung passen“, und das betont, was dem gewünschten Ziel zu helfen scheint (Meinhardt 2020: 87) – manchmal mit Hilfe von Informationen, Kontakten und Material aus dem Propagandaapparat und manchmal ohne.
3. Zwischenspiel: Twitteröffentlichkeit
Wer heute die öffentliche Kommunikation steuern und kontrollieren will, muss die Logik der Digitalplattformen bedienen. Das gilt insbesondere für Twitter, einen Kanal, der innerhalb weniger Jahre zur zentralen Anlaufstelle der wichtigsten Akteure im „umgekehrten Totalitarismus“ geworden und vor allem im medial-politisch-akademischen Komplex nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist, auch wenn einige Protagonisten in der aufgeregten Debatte um die Übernahme durch Elon Musk im Herbst 2022 ihren Account aufgegeben haben. In Deutschland war Twitter immer eine Sache von Minderheiten. Vier Prozent der über 14-Jährigen, sagt die ARD/ZDF-Onlinestudie von 2022, nutzen Twitter täglich und zehn Prozent wenigstens einmal in der Woche. Damit sind auch die gemeint, die nur lesen und hin und wieder per Klick für Reichweite sorgen. Zehn Prozent. Eher männlich, höchstwahrscheinlich unter 50 (vgl. Koch 2022: 472f.). Selbst in den USA, wo es üblich ist, den Größen aus Film, Pop und Profisport zu folgen, sagt nicht einmal jeder vierte Erwachsene, dass er Twitter nutze. Das Profil dieser Blase: jung, wohlhabend, gebildet (vgl. Ungar-Sargon 2021: 104).
Aus den USA weiß man auch, dass die allermeisten Tweets von einigen wenigen kommen (vgl. Odabaş 2022) – von Leuten, die eine Mission haben und die Ressourcen, dafür zu werben. Firmen, Behörden, Beauftragte, Unternehmer ihrer selbst, NGOs, Aktivisten jeder Couleur, Parteien. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 hatte fast jeder der Abgeordneten, die erneut kandidierten, und fast jeder von denen, die dann neu in das Parlament einzogen, einen Twitter-Account. Besonders aktiv (in dieser Reihenfolge): Linke, Grüne, SPD, FDP. Die Gewählten folgen allesamt mehr oder weniger den gleichen Accounts. Die Tagesschau, der Spiegel, der Regierungssprecher, die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit kommen jeweils auf über 60 Prozent. Neben den Leitmedien, der Nachrichtenagentur dpa und Spitzenpolitikern wie Christian Lindner oder Annalena Baerbock steht auch der „Staatssatiriker“ und „Behördenleiter“ (Mai 2022: 46) Jan Böhmermann sehr weit oben in diesem Ranking (vgl. Schmidt 2021).
Auf Twitter wird bestimmt, was in die Realität der Leitmedien eingebaut werden kann – welche Themen mit welchen Stimmen und mit welcher Moral. Die Nutzung von Twitter und die Beobachtung der dortigen Trends bestimmen heute in vielen Redaktionen den Arbeitsalltag. Wer heute in das Berufsfeld möchte, lernt spätestens im Volontariat oder an den Journalistenschulen, dass nichts über eine gepflegte Twitter- oder (jenseits des politischen Journalismus) TikTok- und Instagram-Marke geht. Faustregel: je mehr Follower, desto größer die Chance auf Auftrag oder Anstellung (vgl. Ungar-Sargon 2021). Die Älteren können diesem Trend kaum ausweichen. Drei von vier Mitgliedern der Bundespressekonferenz haben ein Twitter-Profil – auch hier wieder vor allem die Jüngeren und damit auch diejenigen mit weniger Berufserfahrung. Für wichtig halten besonders die Journalisten Twitter, die von Abgeordneten in ihren Tweets erwähnt werden (vgl. Nuernbergk/Schmidt 2020). Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, hat stolz beschrieben, wie er vertrauliche Informationen in Tweets verwandelt, die dann von Politikern genutzt werden, um ihre Sicht auf die Dinge mit Verweis auf den Topjournalisten durchzusetzen (vgl. Precht/Welzer 2022: 114f.). Nach diesem Muster hat sich das Kanzleramt leitmediale Rückendeckung für ihre Lockdownpolitik organisiert: Regierungssprecher Seibert erläuterte die Pläne vor Gesprächen mit den Ministerpräsidenten der Länder ausgewählten Journalisten und sorgte so für den nötigen öffentlichen Druck (vgl. Ismar 2021).
Der Journalismus der Gegenwart muss seine Themen und Ansichten auch deshalb auf Twitter finden, weil die Ressourcen und die hohe Publikationsschlagzahl es immer seltener erlauben, hinauszugehen in die Wirklichkeit und mit den Menschen zu sprechen – vor allem mit denen, die man nicht auf Digitalplattformen trifft. Solche Gespräche wären außerdem gefährlich, denn wie jede Marke verlangt auch ein Twitter-Profil Konsistenz. Ich kann dort nicht heute Fridays for Future feiern und morgen Greta Thunberg verbrennen. In der Twitter-Redaktion treffen sich zwei Seelen, die aufeinander angewiesen sind: der Medienunternehmer, der seine Angestellten dazu anhält, für den Vertrieb der eigenen Beiträge zu sorgen, und der Redakteur, der sich selbst verwirklichen und noch weiter aufsteigen will und deshalb stets zuerst fragt, wie die Sache wohl von ganz oben aussieht (vgl. Klöckner 2019).
Markenpflege ist das Gegenteil des rasenden Reporters, der sich erst selbst überraschen lässt von dem, was er sieht, hört und erlebt, und das dann mit seinen Lesern, Hörern, Zuschauern teilt. Auch deshalb kennt der twitternde Journalist die Geschichte, die er erzählen will, schon dann, wenn die Recherche beginnt. Mehr noch: Er sieht nur die Geschichten, die auf seine Marke einzahlen. Umgekehrt ist es kaum noch möglich, mit Kritik an den Mächtigen durchzudringen oder gar Journalisten zu finden, die selbst jenseits von Details oder Animositäten Grundsatzfragen aufwerfen. Auf Twitter ist alles sofort da, was man gegen Gesetze, Pläne oder Personen vorbringen könnte – veröffentlicht, wenn man so will, von jedermann. Der Journalismus hat das Privileg verloren, den Kopf von Politikern zu fordern, und ist auch deshalb zu ihrem Wachhund mutiert.
Die Folgen der Twitterisierung des Journalismus gehen über den Verlust der Kritik- und Kontrollfunktion hinaus. Das Offensichtliche zuerst: Die Moral erobert neben der Politik auch die Leitmedien. Twitter ist die Wurzel für einen Journalismus, der sich vor allem an „Sprache und Symbolik“ aufhängt (Wagenknecht 2021: 26) und an irgendwelchen Zugehörigkeiten. Twitter sieht jedes Thema durch die Brille der Moral und verlangt deshalb ein Identitätsangebot, wenn man Aufmerksamkeit und damit Reichweite möchte. Es geht immer um mich, um die Gruppe, zu der ich gehören will, oder um die, die ich aus vollem Herzen ablehne. Nichts löst stärkere Emotionen aus, nichts bringt andere schneller zum Teilen, Liken, Kommentieren. Auf einen Begriff gebracht: Es geht um Teamsport. „Das Spiel heißt: WIR gegen DIE“ (Precht/Welzer 2022: 110). Twitter lässt außerdem Maß und Mitte verschwinden und damit jede Differenzierung, alles Fragen, jedes Abwägen. All das passt selbst dann nicht in 280 Zeichen, wenn man Fotos, Videos oder Texttafeln verlinkt (vgl. Homburg 2022).
Der Aufstieg von Twitter zum Chefredakteur der Leitmedien (Ungar-Sargon 2021: 103) und zum Taktgeber der Öffentlichkeit ist eine Verführung für alle, die über Mittel und Wege verfügen, diesen Kanal zu regieren. Heute wird auf Twitter entschieden, was Wirklichkeit ist und wie wir alle darüber zu denken haben. Deshalb ist Twitter fest in der Hand des Establishments und Teil der „Koalition“ von Staat und Monopolkonzernen, der Sheldon Wolin (2022: 63) den Namen „umgekehrter Totalitarismus“ gegeben hat. Wer nicht glauben wollte, wie eng die Obama- und die Biden-Administration mit Twitter verflochten waren und sind (vgl. Malone 2022) oder dass die „Zensur der Hunter-Biden-Laptop-Affäre“ sowie die „beispiellose politische Intervention“ (Hofbauer 2022: 183) gegen Donald Trump Anfang 2021, bei der der US-Präsident auf einen Schlag sein Millionen-Gefolge verlor, auf dieses Beziehungsgeflecht zurückgeführt werden können, wurde spätestens durch die Veröffentlichung der „Twitter Files“ eines Besseren belehrt (vgl. Schirrmacher 2023).
4. Zensur
Hannes Hofbauer (2022: 124f.) datiert die Geburt des Zensurregimes der Gegenwart auf den 28. November 2008. Beim EU-Rahmenbeschluss von diesem Tag sei es um „die Definitionshoheit über Völkermord“ gegangen und damit „de facto“ um Diskussionsverbote und Tabus in Sachen Kriegsschuld etwa in Jugoslawien oder in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In Deutschland ist dieses Thema noch einmal hochgekocht, als Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs (Volksverhetzung) Ende 2022 entsprechend angepasst wurde. Ende der Nullerjahre war offensichtlich geworden, dass die tradierten Propagandamittel nicht mehr ausreichen würden, um die Deutungshoheit zu behalten. Die Plattformen Xing (Start 2003), Facebook und Vimeo (2004), YouTube (2005), Twitter (2006) und WhatsApp (2009) waren spätestens nach der Einführung des iPhone (2007) auf dem Weg zu Massenphänomenen. Das hieß auch: Von nun an waren alternative Interpretationen der Wirklichkeit für jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar (vgl. Vorderer 2015), ohne dass die Professionalität bei der Aufbereitung oder die Qualität der Belege sofort Aufschluss darüber gaben, welche Sicht der Dinge Gültigkeit beanspruchen kann. Wer auf Definitionsmacht aus ist (wie Regierungen, die EU-Kommission oder Multimilliardäre, deren Position und Geschäfte auch von öffentlicher Sympathie abhängen), musste spätestens jetzt anfangen, Konkurrenznarrative und unliebsame Informationen zu bekämpfen.
Neben Gesetzesinitiativen wie dem „Rahmenbeschluss zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ von 2008 und dem Digital Services Act der EU von 2022 wurden dafür drei weitere Möglichkeiten genutzt. Man hat die Kontrolle des Internets erstens institutionalisiert – etwa in der „East StratCom Task Force“, etabliert im März 2015 nach dem „Regimewechsel in der Ukraine“ mit dem Ziel, das „eigene Narrativ“ durchzusetzen (Hofbauer 2022: 129), oder im European Digital Media Observatory (EDMO), wo seit 2020 Akademiker und Faktenchecker (zu diesen Einrichtungen mehr in Abschnitt 5) zusammenarbeiten. Zweitens haben politische und ökonomische Macht ihren Schulterschluss öffentlich gemacht – nachzulesen zum Beispiel in den gerade erwähnten „Twitter Files“ und im „Verhaltenskodex gegen Desinformation“, den EU und Digitalwirtschaft 2018 vereinbart und 2022 mit weiteren Unterzeichnern erneuert haben. Dieser Kodex verpflichtet die Plattformen, „abweichende Positionen“ mit allen Mitteln zu bekämpfen (Hofbauer 2022: 143, 204). Und drittens haben die Konzerne die Sache selbst in die Hand genommen und eine Internetpolizei etabliert, zu der das International Fact-Checking Network (IFCN, 2015 mit Hilfe von Ebay-Gründer Pierre Omidyar angesiedelt am Poynter Institute in den USA, vgl. Graves 2018), das US-Unternehmen NewsGuard, das grüne und rote Schilder im Netz aufstellt (vgl. Schreyer 2022), und die Trusted News Initiative (TNI) gehören.
Um gleich bei diesem letzten Beispiel zu bleiben: Die TNI, im Sommer 2019 unter BBC-Schirmherrschaft gestartet, vereint das Who‘s Who der westlichen Meinungsfabriken: Nachrichtenagenturen (AP, AFP, Reuters), Rundfunkanstalten (neben der EBU und der BBC auch die kanadische CBC), große Zeitungen (Financial Times, Washington Post, Wall Street Journal und The Hindu aus Indien), die wichtigsten Internetunternehmen (Microsoft, Google, YouTube, Twitter, Facebook, First Draft) und das Reuters Institute for the Study of Journalism, eine wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Oxford, die vor allem vom Medienkonzern Thomson Reuters gesponsert wird. Worauf man sich hier einigt, das sollte diese Liste schon beim Überfliegen deutlich machen, wird zu einer Wahrheit, der sich alle beugen müssen, die in den Leitmedien arbeiten, weil auch die Reichweite und die Arbeitsweise jeder deutschen Lokalredaktion inzwischen von der Plattformlogik bestimmt wird. Schon bei der TNI-Gründungsveranstaltung im Juli 2019 warnte Tony Hall, damals Generaldirektor der BBC, vor einer möglichen Trump-Wiederwahl und Impfgegnern. Am 27. März 2020 verkündeten die TNI-Mitglieder dann, dass sie sich ab sofort gegenseitig alarmieren würden, wenn „Fehlinformationen“ oder „Verschwörungstheorien“ in Sachen Corona auftauchen, um jede weitere Verbreitung zu verhindern. Und am 10. Dezember 2020, wenige Tage nach der Zulassung des Biontech-Pfizer-Stoffes in Großbritannien, wurde entschieden, alles zu unterdrücken, was die Corona-Gefahr herunterspielen und gegen eine Impfung sprechen könnte. Die TNI nahm ihre Sicht auf das Thema dabei aus den gleichen Quellen wie die Regierungen (vgl. Woodworth 2022).
Das Beispiel wird hier nicht nur wegen der enormen Deutungsmacht der TNI so ausführlich behandelt, sondern auch, weil es zeigt, dass sich die vier genannten Zensurwege nur analytisch trennen lassen. Ohne den Druck des Gesetzgebers, der sich in gut ausgestatteten Beobachtungsstellen mit Skandalisierungspotenzial manifestiert und in mehr oder weniger freiwillige Selbstbeschränkungen mündete (jede Einschränkung kostet Traffic, Datenzugang und damit Gewinn), würde es die Internetpolizei möglicherweise nicht in dieser Form geben. Konkreter: Warum sollte Facebook „Cleaners“ in Manila bezahlen (so der Titel eines Dokumentarfilms von Hans Block und Moritz Riesewieck aus dem Jahr 2018) und YouTube „Mitarbeiter von NGOs oder Behörden“ als „Trusted Flagger“ ausbilden, wenn es keine gemeinsamen Interessen und kein Zusammenspiel mit der politischen Macht geben würde?
Die wichtigsten deutschen Zensurgesetze sind das NetzDG, in Kraft seit 1. Oktober 2017 und seit 1. Februar 2022 für die großen Plattformen (ab zwei Millionen Nutzer) um eine Meldepflicht für „potenziell strafrechtlich relevante Inhalte“ erweitert (Biselli 2022), und der Medienstaatsvertrag, der am 7. November 2020 aus den Landesmedienanstalten „Kontrolleinrichtungen für die digitale Publikationswelt“ gemacht hat. Seitdem fordert der „Gesetzgeber von Webseitenbetreibern, Bloggern und Medienintermediären“ eine Wahrheitsprüfung (unter dem Etikett „journalistische Sorgfalt“), obwohl die „Definition von Wahrheit bzw. ihrer Missachtung keine hoheitliche Aufgabe sein dürfte“ (Hofbauer 2022: 144f.). Hannes Hofbauer (2022) dokumentiert ausführlich, wie die beiden wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenöffentlichkeit (der russische Staatskanal RT und die Plattform KenFM, die auf YouTube 500.000 Abonnenten hatte) ausgeschaltet wurden und wie Leitmedien und Berufsverbände dazu entweder geschwiegen oder sogar Beifall geklatscht haben.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) interpretiert Hofbauer (2022: 135-138) ganz richtig als „staatlichen Anstoß“, der es den Internetkonzernen erlaubt hat, zu „Zensurmaschinen“ zu mutieren. Die beiden wichtigsten Probleme: Die Begriffe „Hasskriminalität“ und „Fake News“ (die Zielscheiben des Gesetzes) zeichnen sich durch „interpretative Dehnbarkeit“ aus. Und: Das „neue Zensorenregime“ ist „irgendwo zwischen Berliner Justizministerium und US-amerikanischen Konzernzentralen“ angesiedelt und so „kaum fassbar“. Auch die Erweiterung der Lösch- um eine Meldepflicht löst dieses Dilemma nicht auf. Bei der „Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet“, die im Februar 2022 im Bundeskriminalamt mit etwa 200 Mitarbeitern startete, gingen bis Ende November 2022 statt der erwarteten 250.000 Meldungen (vgl. Biselli 2022) nur knapp 3.900 ein (vgl. Pönitz 2022). Das entspricht den Erfahrungen aus der Zeit vor der Einführung der Meldepflicht. Bei den reichweitenstarken Plattformen Facebook und Instagram gab es im zweiten Halbjahr 2020 jeweils nur eine niedrige vierstellige Zahl von NetzDG-Beschwerden. Der Deutungskampf konzentrierte sich in diesem Zeitraum auf den Elitekanal (über 800.000 Beschwerden bei Twitter) und Videos, denen offenbar immer noch die größte Wirkung zugesprochen wird (über 300.000 gemeldete Inhalte bei YouTube). Die Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende kleine Anfrage der FDP lässt zumindest ahnen, welchen Anteil „Beschwerdestellen“ und andere steuer- oder konzernfinanzierte Einrichtungen hier hatten.
5. Fazit und Ausblick
EU, NetzDG und Medienstaatsvertrag (Abschnitt 4) haben in Verbindung mit den in Abschnitt 2 skizzierten Regierungsinitiativen und Kampfansagen von höchster Stelle seit Mitte der 2010er Jahre für eine gesellschaftliche Atmosphäre gesorgt, die Internetaktivitäten jenseits der Leitmedien unter Generalverdacht stellt, einen Schutzmantel für alle offiziellen Narrative liefert und das Geschäft von Flakschützen blühen lässt, unter denen die sogenannten Faktenchecker noch einmal herausragen. „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten“, sagte Angela Merkel im September 2016 in einer Rede zur Flüchtlingspolitik. „Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“ Bei der Einweihung der BND-Zentrale im Februar 2019 hieß es aus demselben Mund: „Wir müssen lernen, mit Fake News als Teil der hybriden Kriegführung umzugehen“. In ihrer Regierungserklärung vom 29. Oktober 2020 hat sie das Land dann in der gleichen Tonalität auf den Lockdown eingeschworen: Kritik an den Corona-Maßnahmen sei zwar unverzichtbar, „aber Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus.“ Die Angst vor einem „Cyber 9/11“ ist dabei in den Schaltzentren der westlichen Hemisphäre seit gut zwei Jahrzehnten präsent, orchestriert auch von hochkarätig besetzten Planspielen, die das Netz mit einem „feindlichen Waffensystem“ gleichsetzen (vgl. Corbett 2021).
Die Faktenchecker – ein Arm der neuen „diskursiven Polizei“ (Foucault 2014: 25) – sind dabei besonders gut getarnt. Wer sollte etwas einzuwenden haben gegen Menschen, die noch einmal draufschauen auf das, was man gerade zusammengeschrieben hat? Das Versprechen, das im Namen dieser Organisationen steckt (die Wahrheit, noch einmal geprüft), ist perfide, weil es suggeriert, dass es in komplexen Gesellschaften Eindeutigkeit und Orientierungssicherheit ohne jeden persönlichen Rechercheaufwand geben kann. Das erklärt, warum sich neben dem IFCN-Mitglied Correctiv (gegründet 2014 mit Geld der Verlegerfamilie Brost) Privatinitiativen wie die Seite Volksverpetzer und Faktencheckabteilungen unter dem Dach traditioneller Medieneinrichtungen etablieren konnten (bei der dpa, beim Bayerischen Rundfunk, bei der Tagesschau). ‚Geprüft‘ wird von all diesen Redaktionen in aller Regel nur das, was der Realität der Leitmedien und damit der Regierungs- und Konzernpropaganda widerspricht.
Wenn Sheldon Wolin (2022) mit seiner Analyse des „umgekehrten Totalitarismus“ richtig liegen sollte, dann ist keine Medienrevolution ohne eine grundlegende Erneuerung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen denkbar. Solange Staat und Konzerne gemeinsame Sache machen, wird sich kein Kommunikationskanal etablieren lassen, der nicht von den Akteuren mit den größten materiellen, personellen und ideellen Ressourcen gekapert werden kann – von Akteuren, die im Fall der Fälle auch Geheimdienste einsetzen können (ein Einfluss, der in diesem Beitrag vernachlässigt wurde, aber trotzdem relevant ist, vgl. Alford/Secker 2015, Talbot 2017, Ulfkotte 2014). Forderungen nach punktuellen Enteignungen (Verlagshäuser) und Reformen (öffentlicher-rechtlicher Rundfunk), nach der Zerschlagung von Monopolen und der Etablierung von europäischen oder zivilgesellschaftlichen Alternativen (Digitalplattformen) laufen deshalb ins Leere. Für eine kritische Gesellschaftsforschung gibt es in einer solchen Situation drei Aufgaben: Aufklärung über Propaganda und Zensur, Aufbau und Unterstützung von unabhängigen Kanälen (wofür unter anderem das Institut steht, das diesen Beitrag veröffentlicht) sowie die Arbeit an Entwürfen für eine Medienordnung, die dem Journalismus einerseits erlaubt, seinen Auftrag Öffentlichkeit zu erfüllen, und andererseits die Zugriffsmöglichkeiten von Interessen jeder Art einschränkt oder zumindest transparent macht.
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Kritische Gesellschaftsforschung
Ausgabe #02, August 2023
ISSN: 2751-8922
In dieser Ausgabe:
Hannah Broecker
Vorwort zur zweiten Ausgabe
Tim Hayward
Kommunikation der Geheimdienste mit der Öffentlichkeit
Jonas Tögel
Kognitive Kriegsführung, Propaganda und Nudging mit Hilfe von Soft-Power-Techniken: eine Herausforderung für westliche Demokratien
Michael Meyen
Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat
Helge Buttkereit
Eine Meinung unter vielen? Zur Definition von Gegenöffentlichkeit und der Überwindung ihrer Grenzen
Harald Walach
Ist Resilienz die Wunderwaffe gegen diese und künftige Pandemien? Ein Buch-Review Essay über Roland Benedikters und Karim Fathis „The Coronavirus Crisis and its Teachings”
 
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