ÖFFENTLICHE KOMMUNIKATION, PROPAGANDA
Vorwort zur zweiten Ausgabe
, Ludwig-Maximilians-Universität München
In der ersten Ausgabe haben zahlreiche Autoren Aspekte der ‚Gesellschaft in der Krise‘ untersucht und damit auch Bereiche für die weitergehende Forschung skizziert. Fragen der öffentlichen Kommunikation und Störungen der öffentlichen Sphäre wurden dabei bereits wiederholt angeschnitten. Diese zweite Ausgabe widmet sich nun den Akteuren, Institutionen und Zielen dieser öffentlichen Krisenkommunikation. Dabei sollen Strategien der gesellschaftlichen Meinungsbildung und Verhaltenssteuerung, der Kampf um die Deutungshoheit und die Begrenzung des Diskursraumes sowie ihr Zusammenhang mit Machtstrukturen und Interessenslagen aber auch ihr Spannungsverhältnis zu grundlegenden demokratischen Kommunikationsprinzipien beleuchtet werden.
Bereits seit vielen Jahren lassen sich tiefgreifende Spaltungen hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung gesellschaftlicher Prozesse und Teilsysteme beobachten – so etwa mit Bezug auf die Institutionen der repräsentativen Demokratie, besonders aber auch gegenüber den Medien als zentrale Akteure öffentlicher Kommunikation (Köcher 2015; Köcher 2017, Arlt/ Wolling 2017). Im Fokus stehen hier thematisch vor allem der nun zum offenen Krieg ausgeweitete Konflikt in der Ukraine, die aus den politischen Reaktionen darauf ausgelöste Energiekrise in Europa, der immer stärker medial und politisch repräsentierte Klima-Krisendiskurs sowie kulturpolitische Themen im Zusammenhang mit Geschlechteridentitäten. Die mediale Reaktion auf den Verkauf der Twitter-Plattform und die darauffolgenden Enthüllungen über weitreichende staatliche Zensurpraktiken hat die gesellschaftliche Relevanz der Diskussion um Meinungsfreiheit, Zensur und die Legitimität unterschiedlicher politischer Perspektiven erneut profiliert und dramatisch zugespitzt.
Im Kontext der genannten Krisen-Diskurse lässt sich jeweils eine starke Moralisierung und Polarisierung von Positionen feststellen. Kommunikative Strategien scheinen dabei zunehmend antagonistische Muster zu bedienen und den fundamentalen Ausschluss der jeweils als Gegenseite begriffenen politischen Perspektiven zu fordern. Es bleibt zu untersuchen, in welchem Ausmaß dies tatsächlich der Fall ist und wie die Linien der diskursiven Trennung und der diskursiven Allianzen verlaufen bzw. ob und in welchen Kontexten und durch welche Akteure und Institutionen auch agonistische Kommunikation im Sinne Mouffes (2014) stattfindet – solche Kommunikation also, die Proponenten von abweichenden Perspektiven grundsätzlich als legitimen Gegner in der Auseinandersetzung würdigen. In diesem Kontext wäre etwa die Analyse sowohl der Geschichte als auch der sich verändernden Nutzungsmuster von politischen Kampfbegriffen – also solchen Begriffen, die dazu eingesetzt werden, Personen, Positionen und Argumentationsmuster aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen, in diskursive Lager einzuteilen oder auch positiv zu profilieren – von besonderem Interesse. So konnten etwa Argumentationsmuster der Solidarität, des Verantwortungsbewusstseins und der Wissenschaftlichkeit auf der einen Seite, aber auch der Topos der Verschwörungstheorie, des Leugners, der Irrationalität und der Rechtsradikalität auf der anderen Seite als wirksame Instrumente der In- und Exklusion identifiziert werden (Kaltwasser 2022, Broecker 2022, Nicoletta 2022).
Zu den Strategien der öffentlichen Kommunikation, die im Kontext der anhaltenden Krisendiskurse der vergangenen Jahre einen zunehmenden Stellenwert eingenommen haben, gehören unter anderem auch direkte und indirekte Zensurpraktiken. Etwa im Kontext der öffentlichen Debatte um den Verkauf von Twitter, aber auch durch solche sich verändernden Begrifflichkeiten und Praktiken mit Bezug auf die Konzepte von „mis-, dis-, und mal-information“ (youtube 2022; twitter 2021; EU vs. Disinfo; Trusted News Initiative; Gräser 2021; Schreyer 2021; Meyen 2021), wird darüber hinaus deutlich, dass diese Veränderung von Praktiken auch mit einer Verschiebung von Normen und normativen Vorstellungen mit Bezug auf die nötige öffentliche (und wissenschaftliche) Sphäre in Demokratien einhergeht. So etwa im Kontext eines offenen Briefes von Wissenschaftlern, die in der New York Times eine härtere Zensur von sogenannten „Misinformationen“ mit Bezug auf die Covid-Pandemie fordern (Alvarez 2020). Wo traditionell Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt als Kernbestandteile einer demokratischen Öffentlichkeit galten, werden Perspektiven über die Nutzung dieser Konzepte zunehmend einer Einteilung in solche Informationen mit gesellschaftlich/gesundheitlich positiver vs. gesellschaftlich negativer und potentiell gefährliche Informationen unterzogen (Barry et al. 2020; Fink 2021; siehe auch Szymanski 2022 in der ersten Ausgabe).
So wurden bereits in der Erstausgabe Strategien der politischen Angstkommunikation untersucht (Gansel 2022). In diesem Zusammenhang werden gesellschaftlich auch Grundlagen journalistischer Ethik neu ausgehandelt. Diese kommunikativen Strategien bestehen in gegenseitiger Abhängigkeit sowohl mit sich verändernden rechtlichen Richtlinien für öffentliche Kommunikation als auch mit institutionalisierten Strukturen. Hierzu gehören etwa neue rechtliche Rahmenbedingungen der Berichterstattung, wie etwa in Deutschland der Straftatbestand der Leugnung von Kriegsverbrechen, neuerlich der ‚verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates‘ (BfV 2021; siehe auch Warweg 2023) oder auch institutionelle Neuerungen wie der Ausbau von fact-checker Netzwerken auf staatlicher bzw. zwischen-staatlicher Basis und im Kontext von Medienhäusern und NGOs.
Ein weiterer Bereich der kommunikativen Strategien bezieht sich auf das bewusste Einsetzen von wahrnehmungs- und verhaltensmodifizierenden Strategien in der öffentlichen Kommunikation. Bereits in der ersten Ausgabe wurden hier grundlegende Zusammenhänge zwischen technokratischen Tendenzen in der politischen Philosophie und Praxis mit den Ansätzen des Nudging aber auch der weiterführenden Verhaltensökonomie als eine zentraler Untersuchungsgegenstand für die strategische öffentliche Kommunikation identifiziert (Broecker 2022; Behavioral Insight Team 2022). Fragestellungen mit Bezug zur Vernetzung von Politik, akademischer (medienpsychologischer) Forschung und der medialen Konstruktion von gesellschaftlich geteilten Wissensbeständen werden in diesem Kontext ebenfalls relevant.
Literatur
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Alvarez, Sonja (2020). Fake-News über das Coronavirus: Drosten und über 100 Ärzte warnen vor Lügen-Pandemie. Tagesspiegel. 7 May. https://www.tagesspiegel.de/politik/drosten-und-uber-100-arzte-warnen-vor-lugen-pandemie-7522582.html
 
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Arlt, D., & Wolling, J. (2017). Die Flüchtlingsdebatte in den Medien aus der Perspektive der Bevölkerung. Veränderungen von Nutzungsmustern, Erwartungen, Bewertungen und Einstellungen zwischen 2016 und 2017. Media Perspektiven, o. J. (6), 325–337. Barry, Colleen; Han, Hahrie; McGinty, Beth (2020). Trust in Science and Covid-19. John Hopkins University. June, 20. https://publichealth.jhu.edu/2020/trust-in-science-and-covid-19
 
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Behavioral Insight Team 2022 Behavioural Insights Team (2022). About Us, https://www.bi.team/about-us-2/who-we-are/
 
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Broecker 2022, Demokratie, Technokratie und die politische Philosophie der Zukunft. In: Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschugn 1(1)
 
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BfV – Bundesamt für Verfassungsshutz (2021). Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/verfassungsschutzrelevante-delegitimierung-des-staates/verfassungsschutzrelevante-delegitimierung-des-staates_node.html
 
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Denner, Nora/ Peter, Christina (2020). Lügenpresse, schreibt die Presse? Die Selbstthematisierung deutscher Tageszeitungen in Bezug auf den Begriff Lügenpresse. In R. Hohlfeld, M. Harnischmacher, E. Heinke, L. Lehner & M. Sengl (Hrsg.), Fake News und Desinformation. Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung (S. 269-282). Baden-Baden: Nomos
 
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EU vs. Disinfo. https://euvsdisinfo.eu/category/blog/coronavirus/ Fink, Anna Giulia (2021). Niedrige Corona-Impfquote: Wissenschaftsleugnung. In Der Standard, Oct. 23. https://www.derstandard.at/story/2000130749007/niedrige-corona-impfquote-wissenschaftsleugnung
 
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Gansel, Christina (2022). Angstkommunikation in der Corona-Pandemie: Zum Muster einer sprachlich-kommunikativen Praktik. In: Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschung 1(1)
 
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Gräser, Tilo (2021). Neue Zensurbehörde? Medienaufseher gehen gegen unabhängige Online-Medien vor. In: Multipolar, Feb., 22. https://multipolar-magazin.de/artikel/neue-zensurbehorde
 
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Kaltwasser, Dennis (2022): Antidemokratische Sprache. In: Gansel, Carsten/Fernández Pérez (Hg.): Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen. Literatur- und Kulturwissenschaftliche Aspekte. Göttingen, 141-152
 
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Köcher, R. (2015, 16. Dezember). Vertrauen und Skepsis – Bürger und Medien. Frankfurter Allgemeine
 
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Köcher, R. (2017, 22. Februar). Interessen schlagen Fakten. Frankfurter Allgemeine Zeitung
 
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Meyen, Michael (2021). Vielfalt in Gefahr. In: Der Freitag, July 15. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/vielfalt-in-gefahr
 
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Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Frankfurt: Suhrkamp
 
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Nicoletta, Gerardo (2022). A reversal mirror of the responsible subject. Chronicles of Italian mainstream representations of anti-vaxxers. In: Covid-19 and the Reconfiguration of the Political. Crisis Discourse Blog (peer reviewed). Online at: https://www.crisis-discourse.net/de/2022/06/a-reversal-mirror-of-the-responsible-subject-chronicles-of-italian-mainstream-media-outlets-representations-of-anti-vaxxers/
 
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Schreyer, Paul (2021): Oppositionsmedien unter Feuer. In: Multipolar, May 29. https://multipolar-magazin.de/artikel/oppositionsmedien-unter-feuer
 
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Skymanski, Adam (2022). Die Ungeimpften als Sündenbock: Eine Medienanalyse der politischen Propaganda während der COVID-19-Pandemie. In: Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschung 1(1)
 
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Trusted News Inititive. Facing the Information Apocalypse: https://www.bbc.co.uk/beyondfakenews/facingtheinformationapocalypse
 
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twitter (Dec. 2021). Covid-19 misleading information policy. https://help.twitter.com/en/rules-and-policies/medical-misinformation-policy
 
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Youtube (2022): Covid-19 medical disinformation policy: https://support.google.com/youtube/answer/9891785?hl=en
 
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Warweg, Florian (2023). Skandal-Urteil in Berlin: Amtsgericht verurteilt Friedensaktivisten wegen Rede „Nie wieder Krieg gegen Russland“. IN: Nachdenkseiten, 25.1. https://www.nachdenkseiten.de/?p=92952
 
 
Kritische Gesellschaftsforschung
Ausgabe #02, August 2023
ISSN: 2751-8922
In dieser Ausgabe:
Hannah Broecker
Vorwort zur zweiten Ausgabe
Tim Hayward
Kommunikation der Geheimdienste mit der Öffentlichkeit
Jonas Tögel
Kognitive Kriegsführung, Propaganda und Nudging mit Hilfe von Soft-Power-Techniken: eine Herausforderung für westliche Demokratien
Michael Meyen
Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat
Helge Buttkereit
Eine Meinung unter vielen? Zur Definition von Gegenöffentlichkeit und der Überwindung ihrer Grenzen
Harald Walach
Ist Resilienz die Wunderwaffe gegen diese und künftige Pandemien? Ein Buch-Review Essay über Roland Benedikters und Karim Fathis „The Coronavirus Crisis and its Teachings”
 
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