Eine Meinung unter vielen? Zur Definition von Gegenöffentlichkeit und der Überwindung ihrer Grenzen
, Kiel
Die vielfach diagnostizierte und beschriebene Krise der Medien (vgl. u.a. Meyen 2021, Meyen 2018, Klöckner 2021, Krüger 2016) ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise im Kapitalismus – wobei der Kapitalismus selbst Grund der Krise bzw. die Krise selbst ist. Mit anderen Worten: „Was fälschlicherweise als ,Zeitungskrise‘ oder gar ,Medienkrise‘ bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein kapitalistisch geprägter, strategisch ausgerichteter Transformationsprozess in der Medienindustrie zur Sicherung der individuellen Kapitalakkumulation im Konkurrenzkampf der Medieneigentümer.“ (Knoche 2014: 255). An dieser Stelle soll es um die Reaktionen auf diese Krise der Medien und des Journalismus‘ gehen. Denn wenn die Medien bestimmte Menschen nicht mehr erreichen, bestimmte Positionen nicht mehr vorkommen, entsteht eine Gegenöffentlichkeit. Das ist eine historische Tatsache – man denke nur an das Aufkommen der sozialdemokratischen Presse im 19. Jahrhundert nebst Verbotspraxis oder die Gegenöffentlichkeit, in diesem Fall auch als Begriff, die sich im Zuge der Außerparlamentarischen Opposition der späten 1960er Jahre herausgebildet hat. Auch in den vergangenen Jahren sind wieder mehr Angebote neu entstanden, andere gewannen an Reichweite. Die Gegenöffentlichkeit ist vielfältig und existiert neben den klassischen Medien – als Folge der jeweiligen Kritik an den Medien oder auch aus Frust der Journalisten, weil sie bestimmte Themen nicht (mehr) platzieren können.
Die neuen Medien der Gegenöffentlichkeit existieren neben alten, wobei einige von diesen – am bekanntesten ist sicherlich die Tageszeitung „taz“ – mittlerweile zum Mainstream gehören. Die meisten neuen Medien der Gegenöffentlichkeit sind im Internet zu finden, sie veröffentlichen Artikel, Videos, Podcasts. Aber auch Radio- und Fernsehsender sind (im Internet) entstanden, ebenso neue Zeitschriften. Die Qualität dieser Medien ist vielfältig, ihre Themen ebenso. Sie wären eine weitere Analyse wert. An dieser Stelle soll es weniger um konkrete Angebote gehen, auch wenn dieser Aufsatz natürlich nicht ohne Verweise auf historische und aktuelle Beispiele von Medien der Gegenöffentlichkeit auskommen kann und auch gar nicht soll.
Ich versuche, mit diesem Text, eine Lücke zu schließen. Denn eine theoretische Reflexion der Gegenöffentlichkeit und ihr Bezug auf die „herrschende Öffentlichkeit“ der Leitmedien ist wichtig, um die Möglichkeiten aber auch die Grenzen der Medien der Gegenöffentlichkeit zu verstehen. Sie ist wichtig für die stetige Selbstreflexion und auch die Selbstkritik der Praktiker. Sie kann helfen, den Blick über das Bestehende hinaus zu weiten. Darum geht es am Ende dieses Textes. Dort will ich versuchen, aus der Dichotomie von Gegenöffentlichkeit und herrschender Öffentlichkeit hinaus zu treten und stelle Überlegungen zu einer „selbstorganisierten Öffentlichkeit“ als Alternative vor. Während es aber die Gegenöffentlichkeit und ihre Medien konkret gibt und auch konkrete Beispiele zu nennen wären, ist diese Alternative vor allem eine logische Fortführung der folgenden Definitionen und eine Konsequenz aus der Betrachtung ihrer Grenzen.
Warum „Gegenöffentlichkeit“? Wenn wir die oppositionellen Medien betrachten, dann beziehen sich diese auf die Leitmedien, den Mainstream. Sie agieren dagegen, grenzen sich vom Mainstream ab, aber bleiben in ihrer Logik. Die Gegenöffentlichkeit folgt den Leitmedien, sie versucht, blinde Flecken zu schließen und das zu äußern, was anderswo nicht gesagt wird (oder werden darf). Sie nimmt Themen auf, die im Mainstream nicht stattfinden. Sie ergänzt eine Sichtweise, die sonst selten zu finden ist. Der Begriff zeigt die Stoßrichtung der Kritik an, die in den Alternativmedien, den Medien in Opposition zum Mainstream, geäußert wird. „Gegenöffentlichkeit meint eine gegen eine hegemoniale Öffentlichkeit gerichtete Teilöffentlichkeit, die um einen spezifischen gesellschaftlichen Diskurs oder Standpunkt herum strukturiert ist.“ (Kotz 1998: 653) Sie ist also gegen den herrschenden Diskurs, den Diskurs der Herrschenden gerichtet, den man auch den „Mainstream“ nennen kann. Ich nutze diese Begriffe synonym. Einige der Medien richten sich auch gegen die vorherrschende Organisation der Gesellschaft, die kapitalistische Vergesellschaftung als Ganzes.
Öffentlichkeit und Leitmedien
Um die Möglichkeiten und Grenzen der Gegenöffentlichkeit näher bestimmen zu können, müssen zunächst der Begriff der Öffentlichkeit im Kapitalismus und dessen Grenzen bestimmt werden. An diesen Grenzen müsste eine Gegenöffentlichkeit ansetzen, will sie über die bestehende bürgerliche Öffentlichkeit hinaus weisen. Was aber ist die „Öffentlichkeit“, wie ist dieser so oft benutzte Begriff genau zu definieren? Das wird heute kaum noch versucht. Hans J. Kleinsteuber (2005) hat in einem kleinen Lexikonartikel zusammengefasst: „Öffentlichkeit wird seit zwei Jahrhunderten in Deutschland diskutiert und entzieht sich inzwischen jeder klaren Definition.“ Dies hat meines Erachtens einen ideologischen Hintergrund, ist das Prinzip der Öffentlichkeit doch konstituierend für die bürgerliche Gesellschaft und die parlamentarische Demokratie und steht im Gegensatz zum Arkanprinzip des Absolutismus.
Historisch entsteht die Öffentlichkeit im Abwehrkampf des Bürgertums gegen die Zensur, im Kampf darum, dass die Staatsgeschäfte nicht mehr im Geheimen verhandelt, sondern öffentlich werden und die Bürger mitbestimmen dürfen. In diesem Sinne ist öffentlich der Gegensatz zu geheim. (vgl. Hölscher 1978) Heute gilt der Gegensatz öffentlich-privat, so dass ganz entscheidende Felder – die Sozialisation in der Familie und die Arbeitswelt – aus der Diskussion ferngehalten werden. (vgl. Negt/Kluge 1972: 10) Hierauf werde ich am Ende des Textes noch zurückkommen und dies wäre auch bereits eine wichtige Grenze der Öffentlichkeit im Kapitalismus, der bürgerlichen Öffentlichkeit.
Jürgen Habermas (1990: 119), dessen Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus dem Jahr 1963 bis heute in der Kommunikationswissenschaft und darüber hinaus eine große Bedeutung hat, beschreibt die historische Entwicklung wie folgt: „In der bürgerlichen Öffentlichkeit entfaltet sich ein politisches Bewusstsein, das gegen die absolute Herrschaft den Begriff und die Forderung genereller und abstrakter Gesetze artikuliert, und schließlich auch sich selbst, nämlich öffentliche Meinung, als die einzige legitime Quelle dieser Gesetze zu behaupten lernt.“ Auch für Habermas ist die Öffentlichkeit also entscheidendes Element für die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft, der repräsentativen Demokratie.
Kleinsteuber (2005) wiederum unterscheidet Öffentlichkeit als Sachverhalt oder als Begriff: „Als Sachverhalt ist die Zuordnung einfach: Öffentlichkeit ist bei freier Zugänglichkeit gegeben, historisch etwa bei Gerichtsverhandlungen und Parlamentssitzungen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik schreibt vor (Artikel 42,1): ,Der Bundestag verhandelt öffentlich.‘ In diesem Sinne ist Öffentlichkeit immer dann gegeben, wenn Zugänglichkeit für die Allgemeinheit garantiert ist. Diese Zugänglichkeit kann sowohl direkt, über Medien, wie auch virtuell (im Internet) hergestellt werden.“
Gehen wir von dieser Definition der Öffentlichkeit als Sachverhalt aus, die sich aus dem genannten Gegensatz geheim-privat ableiten lässt, so ist in der heutigen Zeit die Öffentlichkeit hergestellt – wobei wir zunächst die vielfältigen unterschwelligen und offenen Formen von Zensur außen vor lassen. (vgl. zuletzt Hofbauer 2022) Im idealtypischen bürgerlichen Verständnis gibt es in der Gesellschaft quasi eine offene Arena des freien Meinungsaustauschs, in der sich das bessere Argument durchsetzt. „Öffentlichkeit definiert dabei eine Sphäre außerhalb des Staates, in der Bürger – angestoßen von und artikuliert über Medien – das politische Geschehen kritisch und diskursiv begleiten.“ (Kleinsteuber 2005)
Diese Definition enthält bereits den Verweis auf die Medien, die die Öffentlichkeit herstellen. Es kommt also ganz entscheidend auf die Medien und ihre Organisationsform an. Durch sie sind die Voraussetzungen der Bürger für die diskursive Begleitung des politischen Geschehens eben nicht gleich, die Verleger und die Politik bestimmen die Richtung (Berliner Autorenkollektiv Presse 1972: 23ff.). Diese Vorstellung wird somit zur Ideologie (verstanden als „falsches Bewusstsein“) und viele Vertreter der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft erkennen dieses Problem der Öffentlichkeit nicht (oder wollen es nicht erkennen). Lösen wir das Geheimnis der herrschenden Öffentlichkeit auf, dann können wir mit Carsten Prien konstatieren, dass in ihr keine einzelne Meinung als allgemein gelten kann, schon deshalb nicht, weil es noch andere Meinungen gibt. (Prien 2019: 118)
Mit anderen Worten: In der herrschenden Öffentlichkeit relativieren sich die Meinungen. Kritik wird zwar geäußert, aber sie ist in sofern irrelevant, als dass sie keine Geltung erlangt. Wie entsteht dann aber der Mainstream und die „herrschende“ öffentlichen Meinung und eine sie kritisierende Gegenöffentlichkeit? Carsten Prien (ebenda) schreibt, dass letztlich die „normative Kraft des Faktischen“ übrig bleibe: „Die formalistisch geführte Diskussion affirmiert notwendig die falschen, auf Macht und Gewalt gründenden Verhältnisse.“ Die Verhältnisse können scheinbar (beispielsweise auch durch eine Gegenöffentlichkeit) hinterfragt werden, aber das Hinterfragen hat keine Konsequenzen, denn: „Als öffentliche Meinung zu einem Thema wird folglich nur die Aussage angesehen, deren Veröffentlichung den faktisch größten Geltungsbereich hat.“
Die Medienmonopole bzw. die Leitmedien können die Meinungen auch deshalb manipulieren, weil das anonyme und vereinzelte Publikum selbst nicht organisiert seine Interessen klärt, sondern als disperse Öffentlichkeit angesprochen wird, anders ausgedrückt: Die Menschen verkehren in der öffentlichen Sphäre als abstrakte „Staatsbürger“ oder „Privatpersonen“. (ebenda: 119) Beides sind Abstraktionen des konkreten Individuums. Diese können nur durch eine Organisation auf Basis der Interessen und Erfahrungen überwunden werden.
Weil das Publikum sich selbst nicht organisiert, werden nicht die gemeinsamen Interessen und die Interessengegensätze Grundlage für die Bewertung der Inhalte, sondern können die Medienmonopole diese durch ihre Auswahl in ihrem Sinne darstellen, so dass die Interessen des Kapitals als die Interessen aller erscheinen. Das ist letztlich die normative Kraft des Faktischen. Ein leicht nachvollziehbares Beispiel dafür wäre der Ausspruch: „Geht‘s der Wirtschaft gut, geht‘s uns allen gut“, der Grundlage der (neo)liberalen Ideologie ist und die Wirtschaft klammheimlich vom Menschen abkoppelt. Gehen wir von den Menschen, den Subjekten aus, müsste es vielmehr heißen: „Geht‘s den Menschen gut, dann wirtschaften sie gut“. (Exner 2022: 30f.)
Eine Gegenöffentlichkeit richtet sich gegen die beschriebene normative Kraft des Faktischen. Sie kritisiert und versucht bestenfalls darüber hinaus zu weisen. Das gelingt nur, wenn sie die Mechanismen der so beschriebenen Öffentlichkeit auch praktisch in ihrer Organisationsform aufzuheben versucht. Aber bevor ich dazu komme, möchte ich mich genauer mit der Gegenöffentlichkeit beschäftigen. Heute sprechen wir dabei meist von Medien im Internet wie beispielsweise die Nachdenkseiten, Rubikon, Apolut oder Kontrafunk. Im Printbereich gibt es neben den klassischen Medien der (linken) Gegenöffentlichkeit wie beispielsweise der Tageszeitung junge Welt, die bei einigen Themen – vor allem bei der Bewertung der Corona-Maßnahmen – an der Seite des Mainstreams und damit letztlich der Herrschenden standen und stehen, auch Neugründungen wie die Zeitung Demokratischer Widerstand oder Die Vierte. Auch konservative Blätter wie Tichys Einblick oder Tumult sowie, die Junge Freiheit oder Sezession, die je nach Standpunkt rechtskonservativ bis rechtsextrem genannt werden, kann man zu den Medien der Gegenöffentlichkeit zählen. Sie stellen sich explizit gegen den Mainstream widmen sich Themen, die in den Leitmedien keinen Platz finden oder Positionen artikulieren, die dort nicht vertreten werden. Bei den folgenden Definitionsversuchen wird es darum gehen, über Abstufungen der Begriffe die unterschiedlichen Haltungen und die Konsequenz aus der jeweiligen medialen Praxis genauer zu verstehen und zu bestimmen.
Vorerst bleiben wir bei der einfachen Beschreibung der Gegenöffentlichkeit als eine Art Spiegel der herrschenden, leitmedialen Öffentlichenkeit. Mit Michael Meyen (2021: 36) können wir dabei konstatieren, dass durch die genannten Medien der Raum des Sagbaren größer, wird aber gleichzeitig wieder zusammen schrumpft, weil Politik und Journalismus „am Mythos vom mediatisierten Zentrum stricken und jede Konkurrenz verbeißen“
Meyens Diktum verlässt an dieser Stelle nicht das System der Medien. An anderer Stelle schreibt er (Meyen/von Mirbach: 152) , dass die Leitmedien das „Problem“ Gegenöffentlichkeit selbst erschaffen hätten. „Wenn alle zufrieden sind mit dem, was in der großen Arena diskutiert wird, hat niemand einen Grund, seinen Platz auf der Tribüne zu verlassen und selbst Themen oder Positionen in der Öffentlichkeit zu platzieren.“ An dieser Stelle bewegt sich Meyen in einem Modell von bürgerlicher Öffentlichkeit, das ich als Ideologie bezeichnet habe. Man könnte es in Anlehnung an Meyen einen Pluralismus-Mythos nennen. Allerdings hilft diese Definition sehr wohl, um die Mechanismen innerhalb dieses Systems zu verstehen und auch die Reaktionen auf Gegenbewegungen und konkrete Manifestationen in Form von neuen, von den Zwängen der alten Medien scheinbar freien Medien.
Und schließlich: Am Ziel einer freien Rede und eines offenen Austauschs der Argumente würde ich als Utopie festhalten. In der bürgerlichen Öffentlichkeit ist sie angesichts der beschriebenen Strukturbedingungen, dem Privatbesitz an Produktionsmitteln, aus dem sowohl die Kapitalkonzentration als auch die daraus folgende Monopolisierung hervorgeht allerdings nicht zu verwirklichen. Eine falsche Alternative dazu, dies sei an dieser Stelle zunächst nur festgestellt, wäre übrigens die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Dass der Staat den Meinungskorridor ebenfalls einschränken würde, ist schon deshalb heute für jeden nachvollziehbar, weil bereits unter den derzeit herrschenden Verhältnissen der Staat die Meinungen lenkt und auf vielfältige Weise beispielsweise über den neuen deutschen Medienstaatsvertrag (Hofbauer 2022: 143ff.) – aktiv Zensur betreibt. Bestimmte konservative Kritiker behaupten auch deshalb, dass die derzeit herrschenden Verhältnisse einem Sozialismus gleich kämen. Wobei sie Sozialismus mit Totalitarismus gleich setzen und die Vereinbarkeit von Kapitalismus und Totalitarismus entweder nicht wahrhaben wollen oder können (vgl. die Einschätzung der kleinbürgerlichen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen bei Bedszent 2023: 61f., generell zu vermeintlich „linken“ Presse Krüger 2016: 71f.).
Leitmedien und herrschende Meinung
Als Teil des bürgerlichen Mediensystems können die Medien der Gegenöffentlichkeit als Konkurrenz zu den Leitmedien nicht zum Zentrum durchdringen. Ihre Kritik bleibt, solange sie sich als einen solchen Teil begreifen bzw. als solcher agieren und vor den Mechanismen der Öffentlichkeit die Augen verschließen, notwendigerweise wirkungslos. Denn diese Medien liefern „nur“ eine – in diesem Fall eine andere, kritische – Meinung neben anderen. Warum das so ist, soll im folgenden näher beleuchtet werden, indem ich das Prinzip „Gegenöffentlichkeit“ noch einmal genauer anschaue und dabei verschiedene Versuche der Definition vorstelle.
Dabei stehen die herrschenden Verhältnisse und mit ihr die herrschende öffentliche Meinung im Zentrum, sie lassen eine Gegenöffentlichkeit entstehen. Schauen wir dafür zunächst erst noch einmal auf die Leitmedien selbst. Dies sind laut Michael Meyen (2020: 264f.) solche Angebote, „die von Entscheidungsträgern wahrgenommen werden und dort genau wie in der Bevölkerung symbolische Gewalt entfalten, weil wir unterstellen müssen, dass andere sie ebenfalls wahrnehmen und ihr Verhalten entsprechend ausrichten. Auf eine Formel gebracht: Was nicht in den Leitmedien erscheint oder was dort nicht als legitim markiert wird, das existiert nicht (egal ob Themen, Personen oder Positionen). Leitmedien gibt es dabei sowohl auf globaler und nationaler Ebene als auch in der Region oder im Lokalen.“
An anderer Stelle schreibt er (2022: 82): „Die Wucht der Leitmedien entspricht einer doppelten Projektion. Wir unterstellen erstens, dass alle anderen das gleiche gesehen, gelesen, gehört haben. Und wir nehmen zweitens an, dass die Inhalte wirken – nicht bei uns wir sind schließlich abgeklärt, aber bei den anderen. Ob das stimmt, spielt keine Rolle.“ Die Leitmedien werden so zu einer „Realität erster Ordnung“. Wie bereits festgestellt wurde, sind die Inhalte allerdings nicht beliebig. Ob sie eine Geltung bekommen und somit Teil des Diskurses in den Leitmedien werden, entscheidet sich dadurch, inwieweit sie die Ideen der Herrschenden reproduzieren bzw. diesen nützen. Wäre dem nicht so, würde es reichen, die beschriebene doppelte Projektion zu bekämpfen und ihr alternative Sichtweisen entgegen zu setzen.
Die Leitmedien zeigen uns also „Definitionsmachtsverhältnisse“ (Ulrich Beck) auf. Michael Meyen (Meyen/von Mirbach 2021: 155) beschreibt diese in Anlehnung an Beck wie folgt: „Zugespitzt formuliert: Macht hat heute, wer über die ,nötigen Ressourcen‘ verfügt, in der Öffentlichkeit seine Version der Realität durchzusetzen.“ Womit wir letztlich wieder beim Kapitalismus und der Legitimation der Ideen der Herrschenden sind, die die Leitmedien verbreiten. Und gerade dadurch, dass sie die Positionen der Herrschenden verbreiten, werden sie zu Leitmedien. Es handelt sich um einen festen Kern an Medien, die Taktgeber für andere Medien sind. Zu nennen sind neben den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF unter anderem die Süddeutsche Zeitung, die FAZ, die Welt, der Spiegel, die Zeit sowie ihre Online-Ableger. (Krüger 2016: 29f.) Wie sehr dies funktioniert, zeigen regelmäßig positive Reaktion der oppositionellen Medien auf abweichende Artikel in eben den Leitmedien und umgekehrt die scharfe Kritik an abweichenden Positionen in Leitmedien von den Kollegen des „mediatisierten Zentrums“.
Auf die Leitmedien haben die Regierungen durch verschiedene Kanäle wie beispielsweise die Bundespressekonferenz, gemeinsame Organisationen und Treffen sowie durch die gleiche Sozialisation der Eliten eine gewisse Zugriffsmöglichkeit (Krüger 2016: 85ff.). Rainer Mausfeld (2018: 204) stellt fest, dass diejenigen, die „die gesellschaftlichen Sozialisationstendenzen am längsten durchlaufen haben und somit die herrschende Ideologie tendenziell am tiefsten verinnerlicht haben, auch am ehesten dazu neigen, sich in den Dienst politischer und ökonomischer Machteliten zu stellen“. Im Zuge ihrer Sozialisierung hätten sie die strukturellen Mechanismen internalisiert, über die sich gesellschaftliche Anerkennung gewinnen lässt.
Dazu kommt, dass die Journalisten laut diversen Studien meist aus der Mittelschicht stammen, fasst Marcus Klöckner (2019: 33) zusammen und beschreibt diese in Anlehnung an Pierre Bourdieu wie folgt: „Der Habitus der Mittelschicht lässt oft den Hang erkennen, sich in die herrschenden Strukturen bestmöglich zu integrieren. Er ist auf Anpassung ausgerichtet, die Akzeptanz der Herrschaftsverhältnisse gehört zu seiner inneren Programmierung.“ Die besondere Bedeutung des Mittelstandes für die Gesellschaft ist Thema vieler Analysen insbesondere in der Folge der Durchsetzung des Faschismus in Deutschland und anderswo gewesen, worauf ich an dieser Stelle nur hinweisen kann.
Zurück zu Journalismus und Politik: Man stammt aus einer Klasse und kennt sich auch über andere Kanäle: Viele Sprecher von Landesregierungen waren früher selbst bei den großen regionalen Medien. Aufsehen erregte 2021 der Wechsel von gleich drei (von vier) Landeskorrespondenten der Regionalzeitungen in Ministerien des Landes Rheinland-Pfalz (Schade 2021). Ähnliches gilt für den Regierungssprecher in Berlin: Nach dem ehemaligen Heute-Moderator Steffen Seibert übernahm der frühere Hauptstadtkorrespondent der DuMont-Verlagsgruppe Steffen Hebestreit.
Es schreiben und senden nicht alle das gleiche, aber es gibt einen Konsens, „eine Anzahl von Themen und Meinungen, die in einem bestimmten Zeitraum in der Medienlandschaft dominieren und damit eine ,Hauptströmung‘ oder eine ,Hauptrichtung‘ bildet“. (Krüger 2016: 30) Uwe Krüger hat den Begriff der „Verantwortungsverschwörung“ geprägt, der die enge Verknüpfung zwischen den Eliten in Politik und Medien treffend beschreibt. Diese ist in einem kapitalistisch strukturieren Mediensystem logisch und für sein Fortbestehen gleichsam notwendig, ich habe darauf bereits hingewiesen.
In Zeiten der Dauerkrise verbinden sich die Eliten um so enger, analysiert Krüger (ebenda:: 130), weswegen der Korridor des Sagbaren in den Leitmedien immer stärker eingeschränkt wird. „Die abweichenden Meinungen und die Hinweise auf Systemfehler und gesellschaftliche Widersprüche finden sich heute, zum großen Teil bekämpft vom politisch-medialen Establishment, vor allem außerparlamentarisch und in einer Internet-basierten Gegenöffentlichkeit wieder.“
Michael Meyen (Meyen/von Mirbach 2021: 152) spricht in Anlehnung an Marcus Klöckner von zwei Seiten des „journalistischen Feldes“, von einer Grenze zwischen Mainstream und Gegenöffentlichkeit, einen „Kampf um Deutungshoheit und Definitionsmacht, bei dem schon wegen der Position, die medial vermittelte Kommunikation in den überlieferten Herrschaftsstrukturen hat, auch die Systemfrage steht oder, etwas weniger angreifbar formuliert, die Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.“ Noch einmal anders gesagt: Wenn die bürgerliche Öffentlichkeit bzw. ihr Funktionieren existenzielle Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist, dann wird jede Kritik daran zu einer Gesellschaftskritik. Und wird diese so radikal wie beispielsweise bei Michael Meyen in dessen Büchern und Aufsätzen, gerät sie selbst in die Kritik (vgl. sensationsheischend Hildebrandt 2022, sachlicher Weischenberg 2021, zusammenfassend Köhler 2022).
Gegenöffentlichkeit & Alternativmedien: Definitionsversuche
Wie aber ist nun die Gegenöffentlichkeit gegen den Mainstream der Leitmedien zu bestimmen und zu definieren? Was beschreibt überhaupt der Begriff? Er wird in der Literatur oft auf das bereits genannte Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge zurückgeführt. Bereits zuvor fiel er im Zuge der Studentenbewegung der 1960er Jahre, in deren Umfeld auch Negt und Kluge agierten. Der Begriff steht beispielsweise in einer Resolution aus dem Jahr 1967 des SDS (1967: 34), dem wichtigsten Verband der antiautoritären Bewegung der damaligen Zeit. Die Resolution ist im Zusammenhang mit der Kampagne zur Enteignung des Springer-Konzerns zu verstehen und in ihr ist das Ziel formuliert „eine aufklärende Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die Diktatur der Manipulateure muss gebrochen werden“.
In der revolutionären Situation der Studentenbewegung wird die Gegenöffentlichkeit damit zum „Kampfbegriff, der sich gegen das das? Herrschaftssystem legitimierende Mediensystem wendet, gegen dessen Struktur und Arbeitsweise“. (Karl-Heinz Stamm zit. nach Oy 2003: 509) Die Kritik der heutigen Gegenöffentlichkeit ist also keineswegs neu, sie lässt sich mindestens bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen, wobei es auch zuvor Medien gegeben hat, die sich explizit gegen den Mainstream wandten. Für unser Thema soll indes dieser Rückgriff auf die Tradition der antiautoritären Studentenbewegung zunächst ausreichen. Nach dem Scheitern direkter Aktionen in der Hochphase der Bewegung zwischen 1967 und 1969 „wurde die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit als Netzwerk kritischer Medienprojekte propagiert“ (Oy 2003: 509). So entstanden in den 1970er und 1980er Jahre viele Projekte alternativer Publizistik, die von der Theorie Negts und Kluges maßgeblich inspiriert wurde.
Die beiden Autoren unterscheiden Gegenöffentlichkeit dabei von einer „kritischen Öffentlichkeit“, die ihrer Auffassung nach in das „Symbolspektrum der bürgerlichen Öffentlichkeit“ passt (Negt/Kluge 1972: 9). Eine „kritische Öffentlichkeit“ bewegt sich demnach im Rahmen des bestehenden Mediensystems und ist für den Mainstream der Beweis dafür, dass eben doch eine andere Meinung vertreten werden kann. Dass diese „kritische Öffentlichkeit“ keine Geltung erlangt, liege eben daran, so würde in der Logik des Systems argumentiert werden, dass sie nicht relevant ist. Als Alternative zur systemimmanenten „kritischen Öffentlichkeit“ arbeiten Negt und Kluge eine „proletarische Öffentlichkeit“ heraus, dem Antagonisten zur herrschenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Diese „bürgerliche Öffentlichkeit“ ist das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, das ich weiter oben meist ohne Adjektiv verwendet und dessen Pluralismus-Vorstellung ich als Ideologie beschrieben habe. Schon der unterschiedliche Zugang zu den Produktionsmitteln der Meinungsverbreitung macht klar, dass es unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen keine gleichen Voraussetzungen geben kann. Der Bezug gerade auf das Kapital, den Besitz der Produktionsmittel und die wirklichen Produzenten, historisch das „Proletariat“, ist in dem Zugammenhang wichtig, um das Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit zu verstehen.
Denn es ist heute sicherlich noch schwerer als vor 50 Jahren, als das Buch erstmals erschien, mit diesem Begriff des „Proletarischen“ zu arbeiten. Gemeint ist dabei nicht das Proletariat als historische Klasse der Industrialisierung, sondern als eine strukturelle Kategorie, die für die kapitalistische Klassengesellschaft grundlegend ist und die auch (bzw. gerade) im Neoliberalismus weiter existiert. Ihre Mitglieder werden heute oft, um die historischen Fehlschlüsse auszuschließen, als „Lohnarbeiter“ oder noch allgemeiner als „Lohnabhängige“ bezeichnet, ein Begriff der indes weniger scharf den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Proletariat und Kapital zu beschreiben imstande ist. Die einen, das Proletariat, sind Besitzer ihrer Arbeitskraft und verkaufen diese, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, an die Besitzer der Produktionsmittel, das Kapital. Beide Klassen sind die Antagonisten im Kapitalismus. Marx‘ Utopie von einer „freien Assoziation der Produzenten“ kann nur durch die arbeitende Klasse erreicht werden, die im Kapitalismus fremdbestimmt produziert, die Arbeitskraft an das Kapital verkauft, das den Mehrwert einstreicht.
Negt und Kluge (1972: 10) beschreiben die „proletarische Öffentlichkeit“ als eine, „die die Interessen und Erfahrungen der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung wiedergibt, so wie diese Erfahrungen und Interessen wirklich sind“. So definiert, können wir auch heute diesen Begriff verwenden. Ich werde später wieder darauf zurückkommen, wenn es um konkrete Vorschläge der Organisationsform einer Gegenöffentlichkeit geht, die die Begrenzungen der „kritischen Öffentlichkeit“ zu berücksichtigen versucht.
Der Begriff der „Gegenöffentlichkeit“ beschreibt bei Negt und Kluge (ebenda: 143) eine „Vorform“ zur proletarischen Öffentlichkeit. Vielleicht hilft diese Einordnung der „Vorform“ beim Verständnis der heutigen Gestalt der Gegenöffentlichkeit, für die vielfach die folgende Einschätzung gelten dürfte: „Eine Gegenöffentlichkeit, die sich auf Ideen und Diskurse mit aufklärerischem Inhalt stützt, vermag keine wirksamen Waffen gegen den Zusammenhang von Schein, Öffentlichkeit und öffentlicher Gewalt zu entwickeln.“ Sie verbleibt laut Negt und Kluge in der gleichen Sphäre wie die bürgerliche, die herrschende Öffentlichkeit. Sie kritisiert sie fundamental und verlässt zwar, so würde man heute sagen, den Bereich des Sagbaren, greift die Themen auf, die im Mainstream kaum oder gar nicht behandelt werden. Aber sie überwindet die bürgerliche Öffentlichkeit nicht, weil ihre Kritik weiterhin von den gleichen Grundannahmen wie die bürgerliche Öffentlichkeit ausgeht (beispielsweise vom Pluralismus-Mythos), weiterhin den abstrakten „Staatsbürger“ bzw. die „Privatperson“ anspricht und sich nicht neu gegen die Bedürfnisse des Kapitals organisiert.
Allerdings kann die Kritik auch zu einer Verlaufsform entwickelt werden, in der sie die Kritik hin zu einer anderen Form von Praxis drängt oder, besser gesagt, in der die Kritik eine Wirkungsmacht außerhalb der Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit erlangt. Dies kann gelingen, wenn sie sich mit einer politischen Bewegung verbindet bzw. sich diese im Verlauf herausbildet. Dazu gleich mehr in der Auseinandersetzung mit anderen, teilweise auf Negt und Kluge aufbauenden, Überlegungen zur Gegenöffentlichkeit. Zunächst aber noch einmal zurück in die Definition. Negt und Kluge (ebenda: 134f.) stellen fest, dass die bürgerliche Gesellschaft kein Interesse an substantieller, lebender Öffentlichkeit hat, in der die wirklichen gesellschaftlichen Widersprüche ausgetragen werden (das Privat- und Wirtschaftsleben wird aus der Öffentlichkeit ausgeklammert). Stattdessen habe sie ein großes Bedürfnis nach einer Öffentlichkeit, die eine gesamtgesellschaftliche Synthese darstelle, die Gesellschaft als Ganze und „Gemeinschaft“. „Eine solche Synthese kann es jedoch in einer Klasengesellschaft nicht geben, und sie hat auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bisher nicht existiert. Deshalb kann man in diesem Zusammenhang nur von Scheinöffentlichkeit sprechen.“ Für die beiden Autoren ist also die bürgerliche Öffentlichkeit letztlich nur ein Schein, die Vorstellung davon verdeckt die Rolle der Öffentlichkeit und ihrer Akteure (also den Leitmedien) zur Aufrechterhaltung des Status quo, der kapitalistischen Klassengesellschaft. Und schon damals konnten sie schreiben: „Bemerkenswert an ihr [der Scheinöffentlichkeit] ist, dass sich auch die unterdrückten Klassen an ihr orientieren.“
Dabei stützt sich der Schein auf einen harten materiellen Kern, die herrschenden Verhältnisse. Dagegen lässt sich etwas machen: „Gegen Produktion der Scheinöffentlichkeit helfen nur Gegenprodukte einer proletarischen Öffentlichkeit: Idee gegen Idee, Produkt gegen Produkt, Produktionszusammenhang gegen Produktionszusammenhang. Anders ist es ausgeschlossen, die permanente Zustandsveränderung zu fassen, die die gesellschaftliche Gewalt in ihrer hin und her Bewegung zwischen kapitalistisch organisierter Produktion, Scheinöffentlichkeit und öffentlichem Gewaltmonopol veranstaltet.“ (ebenda: 143)
Und die beiden Autoren geben an gleicher Stelle einen weiteren Hinweis, wie dies geleistet werden kann: „Nur auf dieser soliden Basis wirklicher Massenerfahrung hat proletarische Öffentlichkeit das Gewicht, mit dessen Hilfe sie die hin- und hereilenden Bewegungen bürgerlicher Scheinöffentlichkeit zum Halten bringen kann.“ Dabei bestehe die Gefahr, dass auch in dieser Öffentlichkeit Scheinöffentlichkeiten entstehen, da die proletarische Öffentlichkeit zwar den Anspruch formulieren müsse, das Ganze des proletarischen Interesses zu verkörpern, dies aber zu Beginn noch nicht entfaltet ist. Um diesem Problem zu begegnen, bleiben Kritik und Selbstkritik essentiell. Heute sind wir von Massenerfahrungen – zumindest in organisierter Form – weit entfernt. Als Organisationsform böte sich das bereits erwähnte Modell des Sozialistischen Büros mit seinen Arbeitsfeldern an. In dessen Arbeitsfeldern schlossen sich Menschen aus dem gleichen Berufsumfeld zusammen, die Erfahrungen sollten dann gebündelt und mit den Erfahrungen aus den anderen Arbeitsfeldern abgeglichen werden. Durch die gemeinsame Praxiserfahrung könnte dann in der Gesamtorganisation eine Vorstellung des Ganzen entstehen. (vgl. Prien 2019: 58ff.)
Bevor wir bei den Überlegungen zur selbstorganisierten Öffentlichkeit noch einmal auf die Überlegungen von Kluge und Negt zurückkommen, soll es im Folgenden um weitere Bestimmungen der Gegenöffentlichkeit gehen, die näher an der Gegenwart formuliert wurden, so dass zumindest einige aktuelle Entwicklungen aufgegriffen wurden.
Jeffrey Wimmer (2010) bezieht den Begriff „Gegenöffentlichkeit“ auf drei Komplexitätsebenen von Öffentlichkeit, deren Grenzen allerdings fließend und kontingent seien: „Erstens werden damit kritische Teilöffentlichkeiten definiert, die ihren als marginalisiert empfundenen Positionen, welche oft auch als Gegenöffentlichkeit bezeichnet werden, mit Hilfe von alternativen Medien und Aktionen innerhalb der massenmedialen Öffentlichkeit Gehör verschaffen möchten (alternative Öffentlichkeit). Hier kann wiederum zwischen alternativen Medien mit größerer Thematisierungskraft wie z. B. die Berliner Tageszeitung taz (alternative Leitmedien) oder geringerer öffentlicher Reichweite wie z.B. lokaler Bürgerfunk oder offenen Kanälen (alternative Folgemedien) differenziert werden. Zweitens bezeichnet Gegenöffentlichkeit auf der (Meso-)Ebene kollektive und dabei v. a. politische Lern- und Erfahrungsprozesse innerhalb alternativer Organisationszusammenhänge wie z. B. neue soziale Bewegungen oder nichtstaatliche Organisationen (partizipatorische Öffentlichkeiten). Auf der (Mikro-)Ebene einfacher Interaktionssysteme verweist der Begriff drittens auf vielfältige Formen von (zum Großteil individuellem) Medienaktivismus gerade im Bereich der neuen Medien.“
Betrachten wir die derzeitige Gegenöffentlichkeit, so sehen wir vor allem die erste Komplexitätsebene verwirklicht. Für die „partizipatorische Öffentlichkeit“ fehlt es an einer wirklichen Bewegung. Nun werden Anhänger der „Demokratiebewegung“ vielleicht entgegnen, dass es doch eine solche gebe bzw. zumindest in der Hochphase der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen gegeben habe. Natürlich: Es gab Demonstrationen und Proteste und auf der anderen Seite auch Medien, die die Bewegung konstituierten. Dabei hat sich die Bewegung als solche nicht organisiert (und kann sich vielleicht aufgrund ihres heterogenen Charakters gar nicht so einfach organisieren).
Das führte beispielsweise bei der Zeitung „Demokratischer Widerstand“, die sich als Sprachrohr der „Bewegung“ begriff, zu Propaganda- und Durchhalteartikeln, die die wirklichen Kräfteverhältnisse nicht widerspiegelten. Überspitzt gesagt: Wer die Zeitung las, bekam quasi jede Woche erzählt, dass der Sieg der Bewegung kurz bevor stünde, bekam Geschichten großer Heldentaten und Demonstrationen in unbekanntem Ausmaß aufgetischt. Was leider oftmals geschichtslos und realitätsfern war. Wodurch die Zeitung neben dem zweifellos vorhandenen organisierenden auch einen desillusionierenden Charakter bekam. Denn wer stetig liest, er sei auf der Seite der Gewinner aber den versprochenen Sieg nicht erlebt, der wendet sich ab.
Die Lern- und Erfahrungsprozesse, von denen Wimmer spricht, können nur in den Medien stattfinden, wenn diese Selbstkritik üben und ihre Wunschvorstellung mit der Realität abgleichen, was bedeutet klar vor Augen zu haben, was die Utopie, was die aktuelle Wirklichkeit ist – ich habe es in anderem Zusammenhang „Utopische Realpolitik“ genannt (Buttkereit 2011: 16f.). Für die dritte Komplexitätsebene Wimmers finden sich wiederum viele Beispiele, einige sind hier bereits erwähnt worden. Und dass es sich bei den Medienmachern der aktuellen Gegenöffentlichkeit um einen individuellen Aktivismus handelt, also keine organisierte Gegenöffentlichkeit, wie ich sie gleich kurz skizzieren werde, dem Mainstream entgegen steht, das ist letztlich einer der Anlässe für diesen Text.
Bereits vor zehn Jahren, als Wimmers Text erschien, hatten zahlreiche Onlineformate die Funktion der früheren alternativen und bewegungsnahen Medien übernommen. Der Bedeutungsverlust der Alternativpresse scheine damit überwunden, schrieb er. Dies gilt heute um so mehr, wenn es Angebote gibt, die wie KenFM zu Hochzeiten mehr Abonnenten auf Youtube hatten wie einige Kanäle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Studien ergaben vor gut zehn Jahren: „Onlinemedien stellen im Gegensatz zu alternativen Radios und Zeitungen nur z. T. eine publizistische Ergänzung massenmedialer Öffentlichkeit dar, da hier oft nur Kritik ohne inhaltliche Alternativen artikuliert wird.“ (Wimmer 2010) Die Medien erwiesen sich größtenteils als komplementär zur massenmedialen Berichterstattung. Dies hat sich nicht geändert, auch wenn mittlerweile große Teile der massenmedialen Öffentlichkeit im Internet stattfinden.
Christoph Spehr (2002) vertritt in Anlehnung an Negt und Kluge die These, dass es bei der Entwicklung einer Gegenöffentlichkeit weniger um die Inhalte, sondern vor allem um die subversive Tätigkeit geht. Spehr beschreibt die Gegenöffentlichkeit als Praxisform, legt damit quasi den Fokus auf Wimmers zweite und dritte Komplexitätsebene: „Die Gegenmacht einer emanzipativen Gegenöffentlichkeit, ihre Fähigkeit zur Subversion, liegt weniger in den einzelnen politisch korrekten oder unkorrekten Bildern und Inhalten oder in deren Verweigerung; sie liegt in letzter Instanz nicht im geschickten Bau immer raffinierterer Megaphone oder Störsender. Sie liegt in der Vorstellung einer möglichen, anderen Kombination der verschiedenen Wünsche und Selbstauffassungen, welche die Vision eines veränderten kollektiven Publikums (oder TeilnehmerInnenkreises) beinhaltet. Insofern geht es trotz aller Pluralität multipler Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten immer auch um die eine Gegenöffentlichkeit, die in ihrer Zusammensetzung, Praxis und Kombination (aus bejahten und ‚frustrierten‘ Wünschen, Selbstentwürfen und Handlungsoptionen) die Kooperation einer befreiten Gesellschaft vorwegnimmt.“ Spehr nimmt also die Überlegungen von Negt und Kluge auf und verweist auf die besondere Bedeutung der Organisation, auf die ich noch weiter zurückkommen, die zunächst noch historisch mit Blick auf die Entwicklung der Alternativmedien in Deutschland und das „Partiziptionsparadigma“ eingeordnet werden sollen.
Damit sind wir bei der Frage angekommen, inwieweit die „klassischen“ Alternativmedien der 1970er und 1980er Jahre sich von den heutigen Medien unterscheiden. Michael Meyen (2020: 263) vermeidet den Begriff „Alternativmedien“ bewusst, „weil er fest in die Geschichte emanzipatorischer Bewegungen verankert ist und so fast zwangsläufig zu einer Abwertung von Angeboten führt, die andere politische Ziele verfolgen“. Medien wie reitschuster.de, Tichys Einblick, die Achse des Guten, Compact oder die Junge Freiheit, die allesamt mit einer rechtskonservativen bis rechtsextremen Position die Narrative des Mainstreams kritisieren, passen in klassische Definition von Alternativmedien nicht hinein. Während die klassische linke Gegenöffentlichkeit dem Mainstream eine Rechtslastigkeit vorwirft, kritisieren diese Medien am Mainstream, dass er zu links sei – wobei links in diesem Fall vor allem eine Nähe zu den Grünen und deren Klientel bedeutet. Die Kritik richtet sich gegen Identitätspolitik und den Fokus auf den Staat, was mit einer linken Position verwechselt wird – angesichts der Schwäche der politischen Linken kann man dies nachvollziehen, wobei wir an dieser Stelle nicht weiter in die Tiefe gehen können
Zurück zum Partizipationsparadigma, das für die Alternativmedien bislang konstitutiv war. Interessant ist, dass Marisol Sandoval (2011: 140), eine Schülerin Manfred Knoches, bereits vor gut zehn Jahren Überlegungen zur Neudefinition von Alternativmedien angestellt hat. Sie stellte fest, dass in Zeiten des Internets die Partizipation der Konsumenten immer mehr zum Normalzustand wird. Demnach reiche das dominante Paradigma der Alternativmedientheorie nicht mehr für eine Definition aus, das von Alternativmedien als partizipativen Medien ausgeht. Entscheidend sei demnach „die Demokratisierung der Medienproduktion und die Verbesserung der Lebenssituation jener, die an ihrer Produktion beteiligt sind“.
Sandoval (vgl. ebenda: 142f.) formuliert drei Einwände und verfolgt damit das Ziel, die Stellung der Medien in der klassischen Tradition der Alternativmedien an der Seite von „progressiven“ Bewegungen festzuschreiben: Erstens gehe es darum, den Fokus nicht nur auf die Produktionsprozesse (Partizipation) sondern auch auf das Resultat zu richten und damit zu klären, ob die Inhalte herrschaftskritischen Ansprüchen genügen. Zweitens stünden die Alternativmedien nicht außerhalb des Kapitalismus und könnten sich nicht vollständig von ökonomischen Zwängen befreien. Sie müssten sich also den Zwängen des Marktes stellen, zum einen um überhaupt produzieren zu können und zum anderen, um wahrgenommen zu werden. Als dritten Einwand formuliert Sandoval, dass mit der klassischen Definition herrschaftskritische Medien, die professionell organisiert sind, nicht als Alternativmedien gefasst werden könnten (was vor allem auf englischsprachige Publikationen zutreffe). Angesichts der Professionalisierung einiger Online-Medien der Gegenöffentlichkeit kann man den letzten Punkt aber auch die anderen beiden durchaus auf die aktuelle Diskussion übertragen.
Für Sandoval (ebenda: 145) wird der „herrschaftskritische Inhalt“ zu einem Mindestkriterium. Damit endet ihre Definition letztlich beim Verständnis alternativer Medien als kritischer Medien, deren emanzipatorisches Potential darin bestehe, „den herrschenden, durch die Massenmedien verbreiteten Inhalte kritische Ideen entgegenzustellen und dadurch die Veränderung der bestehenden materiellen Verhältnisse zu fördern“. Dies gelinge nur mit einem möglichst großen Publikum, wobei partizipative und nicht-kommerzielle Strukturen hinderlich sein könnten, so Sandoval.
Sie ist damit wieder bei der kritischen Öffentlichkeit angekommen, deren Grenzen Negt und Kluge bereits beschrieben haben. Neben den veränderten Produktions- und Publikationsbedingungen, auf die Sandoval hinweist und die demnach zu dieser Anpassung der Definition geführt haben, gibt es aber noch einen weiteren Aspekt, der nicht zu vernachlässigen ist: Die Marginalisierung der Alternativbewegungen. Denn neben den neuen technischen Möglichkeiten des Internets hat sich eben auch die Bewegung verändert, an deren Seite die Alternativmedien standen. Die politische Linke ist seit Ende der 1960er Jahre entweder marginalisiert und oder hat sich ins System integriert. Das zweite lässt sich aus Sicht der Medien insbesondere mit Blick auf die taz als Zeitung der Alternativbewegung veranschaulichen. Steht diese doch bereits seit vielen Jahren an der Seite der Herrschenden – insbesondere natürlich an der Seite der Partei Bündnis 90/Die Grünen. So hat sie die schon im Kosovo-Krieg 1999 eindeutig Position bezogen. Für den Nato-Angriff auf Jugoslawien.
Und angesichts der Corona-Krise ist noch ein weiterer Aspekt zu nennen: Oftmals haben die vermeintlichen Alternativmedien keine herrschaftskritische Position mehr vertreten, sie haben die staatlichen Maßnahmen vielfach affirmiert (vgl. Gellermann 2020, weitere Beispiele aus dem linken Umfeld u.a. bei Frankl/Roth/Weißert 2021: 113ff.). Stattdessen kam Herrschaftskritik – vielleicht besser: Kritik an den gegenwärtig Herrschenden – von bürgerlichen bzw. konservativen Kräften wie beispielsweise von den bereits genannten Boris Reitschuster, Tichys Einblick oder der Achse des Guten. Dadurch wird die Sache nicht einfacher.
Ein kurzer und an dieser Stelle schon aufgrund fehlender weiterer Belege angreifbarer Erklärungsversuch für dieses Phänomen soll an dieser Stelle genügen. Die Krise der bürgerlichen Öffentlichkeit, aus der eine Vielzahl an Medien der Gegenöffentlichkeit erwächst, ist Symptom einer gesellschaftlichen Großkrise die in eine Zeit des fundamentalen Wandels des kapitalistischen Akkumulationsregimes fällt (vgl. Komlosy 2022). Das kybernetische Zeitalter setzt sich immer mehr durch, auch eine abgehängte Mittelschicht wird nicht mehr vom „mediatisierten Zentrum“ erreicht. Dies bietet ein Einfallstor für bürgerlich-liberale, bzw. konservative Regierungskritik, die letztlich keine Herrschaftskritik ist, denn sie will zurück zu alten Verhältnissen. Auf deren Grundlage sind allerdings die aktuellen Probleme entstanden, weswegen der Standpunkt der Kritik in die falsche Richtung weist (vgl. Wetzel 2023, Frankl/Roth/Weißert 2021: 110ff., Johnstone 2023: 108ff.).
Selbstorganisierte Öffentlichkeit
Zusammengefasst kann man an dieser Stelle sagen, dass die Gegenöffentlichkeit bis heute auf die herrschende Öffentlichkeit bezogen geblieben ist. Sie versucht wie die bürgerliche Öffentlichkeit den abstrakten Staatsbürger zu adressieren. Sie agiert auf dem Feld der Öffentlichkeit, in der „Arena“ der Meinungen. Gleichzeitig kann sie nicht die konkreten Bedürfnisse der Menschen, der Beherrschten, der Lohnabhängigen artikulieren, weil sie die Abstraktion der bürgerlichen Öffentlichkeit teilt oder zumindest nicht kritisch hinterfragt. Die Medien der Gegenöffentlichkeit adressieren das Publikum letztlich auf die gleiche Weise wie der Mainstream, sie halten den herrschenden Erzählungen Gegenpositionen entgegen wodurch letztlich auch der Pluralismus der Meinungen wiederhergestellt wird. Überspitzt könnte man sagen, dass die Gegenöffentlichkeit in ihrer derzeitigen Form das kritisierte System stützt.
Denn die Gegenöffentlichkeit ist immer nur eine Meinung unter vielen und kann nicht zum Zentrum durchdringen, weil sich letztlich immer die normative Kraft des Faktischen durchsetzt. Sobald ein Medium dem Mainstream und damit den Herrschenden gefährlich werden kann, wird es nicht mehr nur ideologisch bekämpft sondern auch ökonomisch und juristisch. Insbesondere der Umgang mit KenFM hat dies gezeigt, aber auch der Versuch, den Nachdenkseiten durch Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Trägervereins die finanzielle Grundlage zu entziehen oder der Rauswurf von Boris Reitschuster aus der Bundespressekonferenz. Natürlich ist auch die Bekämpfung der staatlichen russischen Medien nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 an dieser Stelle zu nennen, hier zeigte die EU und in der Folge die Internet-Provider, welche technischen Möglichkeiten die Zensur heute hat. Gleichzeitig gibt es Gegenbewegungen gegen die Versuche, die Gegenöffentlichkeit zu diffamieren. Und die Mediengeschichte sowie insbesondere die Geschichte der Zensur erlaubt die Aussage, „dass Gegenöffentlichkeit zum herrschaftlichen Diskurs mit Verboten zwar behindert, aber nicht erstickt werden kann“. (Hofbauer 2022: 241)
Es müssen Konsequenzen gezogen werden, um die Grenzen der aktuellen und auch der historischen Gegenöffentlichkeit zu überschreiten. Einige der Elemente sind bereits im Keim vorhanden, bei anderen wären Anleihen bei historischen Projekten möglich. Ich spreche von der Selbstorganisation der Produzenten und Konsumenten, mit der die kapitalförmige Organisation der Medien überwunden und die bereits vorhandene enge Bindung der Leser an die Medien der Gegenöffentlichkeit in eine gemeinsame Organisation transformiert werden könnte.
Dadurch kann der Gegensatz Konsument-Produzent ebenso wie das Verhältnis zwischen Kapitalist/Unternehmer/Verleger und den Angestellten praktisch aufgehoben werden, wobei bei der konkreten Ausgestaltung einer solchen Kooperative/Genossenschaft das Verhältnis der Journalisten und die der Leser/Hörer/Zuschauer genauer bestimmt werden muss. Denn das partizipative Element soll zur Vertiefung und nicht zur Entprofessionalisierung beitragen.
Durch die bewusste Transformation der Gegenöffentlichkeit in eine Form von Gemeinwirtschaft kann im nächsten Schritt auch das Problem der Abstraktion von den konkreten Bedürfnissen bearbeitet werden. Wenn nicht mehr für einen abstrakten Markt produziert wird, muss sich die Medienkooperative auch nicht mehr auf diesen und damit auf den Mainstream und seine Narrative ausrichten. Eine solche Transformation wäre Teil der „Entkapitalisierung des Medienssystems“, wie Manfred Knoche (2014: 241) sie gefordert und dabei erläutert hat: „Entkapitalisierung heißt nicht Enteignung, sondern aktive Befreiung von kapitalistischer Produktionsweise und Kommodifizierung (Warenförmigkeit) der Medienprodukte.“ Dass auch ein nicht-warenförmiges Medienunternehmen den kapitalistischen Rahmenbedingungen unterworfen ist, sei an dieser Stelle nur erwähnt.
In der medienkritischen Literatur wird an vielen Stellen eine ökonomische Transformation als Antwort auf die Krise der Medien ins Spiel gebracht. Michael Meyen (2021: 152) spricht von Verlagen und Sendern in Gemeinschaftsbesitz – „weit weg vom Zugriff einer Politik, die Rundfunkgebühren an Wohlverhalten und Reichweite koppelt, und von Eigentümern, die Rendite über den Auftrag Öffentlichkeit stellen“. Florian Zollmann (2021: 465) schlägt „die Entwicklung eines gemeinnützigen, unabhängigen Mediensektors mit alternativen Organisations- und Eingentumsstrukturen (zum Beispiel Kooperativen, Stiftungen oder auf Selbstbestimmung basierende Organisationsformen“ vor, die von Imperativen wie „Gleichheit, Vielfalt, Mitbestimmung, Kollektivismus und Nachhaltigkeit“ geleitet würden. Wobei seine Anbindung an staatliche Strukturen kritisch hinterfragt werden muss, denn: „Warum sollten diejenigen, die von den alternativen Medien fundamental kritisiert werden, dieser Kritik auch noch finanziell das Fundament bieten?“ (Klöckner 2021: 417) Diese Diskussion gilt es mit Rückbindung an die Frage der Öffentlichkeit zu vertiefen.
Denn nach dem bisher gesagten führt die alleinige Umstellung der Gesellschaftsform auf eine Genossenschaft nicht automatisch zur selbstorganisierten Öffentlichkeit, die Diskussion darüber und die Vertiefung der Diskussion der Organisierten – es handelt sich um einen Lernprozess für alle Beteiligten – kann aber zu einer neuen Vorstellung von Öffentlichkeit führen, die dann bestenfalls zur selbstorganisierten Öffentlichkeit transformiert würde. In jener kämen dann auch die konkreten Bedürfnisse der Organisierten durch gegenseitiges Lernen zur Sprache. Gelänge es einer selbstorganisierten Öffentlichkeit, solche Lernprozesse zu initiieren und sich dadurch weiterzuentwickeln, gelänge ihr bestenfalls die Überwindung des Grundwiderspruchs der bürgerlichen Öffentlichkeit, die substantielle Lebensbereiche (Familie, Unternehmen) ausgrenzt, „gleichwohl aber das Ganze zu repräsentieren beansprucht“ (Negt/Kluge 1972: 11). Sie wäre dann eine Keimform dessen, was die beiden Autoren „proletarische Öffentlichkeit“ genannt haben.
Dabei geht es nicht darum, die Privatsphäre aufzubrechen, sondern gemeinsam konkret zu bestimmen, welche Probleme eben nicht privat sondern gesellschaftlich bzw. allgemein gültig sind und deshalb auch nicht einfach in der Familie oder im Betrieb gelöst werden können. Die Einzelnen müssen also „bewusst und von sich aus ihre Atomisierung überwinden und Solidarität entwickeln“ (Prien 2019: 126). Dabei wird klar: Eine selbstorganisierte Öffentlichkeit kann nur als Teil einer Organisationsbewegung verstanden werden, die weit mehr organisiert als nur die Medien. Denn schon durch das andere Verständnis von „Öffentlichkeit“ bewegt sie sich aus dem Feld der Medien heraus. Mit einem prozesshaften Aufbau einer Organisationsform für den ganzen Menschen würden die Grenzen der Gegenöffentlichkeit überschritten und der Prozess der Selbstorganisation erlaubte es, von „selbstorganisierter Öffentlichkeit“ zu sprechen. Die Diskussion darüber steht derzeit ganz am Anfang. Es wäre interessant aber an dieser Stelle nicht mehr leistbar, einige historische Beispiele und ihre Grenzen zu beleuchten. Bestenfalls könnte dies bereits im Rahmen des Aufbaus einer selbstorganisierten Öffentlichkeit geleistet werden. Denn die historische Bestandsaufnahme wäre, ganz im Sinne einer produktiven Kritik und Selbstkritik, ein wichtiger Teil davon.
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Florian Zollmann: Gegen die Zwänge des Marktes: Konturen eines demokratischeren Mediensystems. In: Nils S. Borchers, Selma Güney, Uwe Krüger und Kerem Schamberger (Hrsg.): Transformation der Medien – Medien der Transformation. Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. Frankfurt am Main: Westend 2021, S. 447-471
 
 
Kritische Gesellschaftsforschung
Ausgabe #02, August 2023
ISSN: 2751-8922
In dieser Ausgabe:
Hannah Broecker
Vorwort zur zweiten Ausgabe
Tim Hayward
Kommunikation der Geheimdienste mit der Öffentlichkeit
Jonas Tögel
Kognitive Kriegsführung, Propaganda und Nudging mit Hilfe von Soft-Power-Techniken: eine Herausforderung für westliche Demokratien
Michael Meyen
Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat
Helge Buttkereit
Eine Meinung unter vielen? Zur Definition von Gegenöffentlichkeit und der Überwindung ihrer Grenzen
Harald Walach
Ist Resilienz die Wunderwaffe gegen diese und künftige Pandemien? Ein Buch-Review Essay über Roland Benedikters und Karim Fathis „The Coronavirus Crisis and its Teachings”
 
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